Bund für’s Leben mit dem Vergewaltiger

Human Rights Watch legt Bericht zu Gewalt gegen Frauen in besetzten Palästinensergebieten vor. Fälle von sexuellem Missbrauch und Zwangsehen häufen sich. Gesetze sind diskriminierend. Straffreiheit für Vergewaltiger, die ihre Opfer heiraten

AUS JERUSALEMSUSANNE KNAUL

Fast jede vierte palästinensische Frau ist Opfer häuslicher Gewalt, doch nur wenige wenden sich um Hilfe an die Familie oder gar an die Polizei. Zu diesem Ergebnis kommt die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), die gestern ihren Bericht über Frauen und Mädchen in den besetzten Palästinensergebieten vorlegte. Die Verfasser appellieren an die Autonomiebehörde, Maßnahmen zu ergreifen, um sexuellen Missbrauch der Frauen zu verhindern sowie die Täter zu verfolgen und zu bestrafen.

„Er schlug mich am ganzen Körper“, zitiert der Bericht die Aussagen einer jungen Ehefrau. „Ich bin nie ins Krankenhaus gegangen und habe nicht einmal meinen Eltern etwas davon erzählt.“ Ihr Mann habe Freunde nach Hause gebracht und sie zum Geschlechtsverkehr mit den anderen Männern gezwungen. Aus Verzweiflung tötete die Frau ihren Mann. „Hätte ich daran geglaubt, dass ich nur eine Ein-Prozent-Chance gehabt hätte, die Situation zu ändern, hätte ich einen anderen Weg gewählt.“

HRW stützt sich zum Teil auf Material des palästinensischen Statistikamtes, zum Teil auf Untersuchungen lokaler Frauengruppen. In einer Umfrage des palästinensischen Women’s Affairs Center von 2001 berichteten 46,7 Prozent von 670 befragten Frauen von „Gewalt und Brutalität“ ihrer Ehemänner während des Geschlechtsakts. In den Gesetzbüchern taucht das Problem der sexuellen Gewalt in der Ehe gar nicht erst auf.

Doch auch Missbrauch und Vergewaltigung außerhalb der Ehe sind ein großes Problem. Der palästinensischen Polizei fehlt es an psychologischer Ausbildung, um mit sexueller Gewalt umzugehen und auch an technischer Ausrüstung für die Untersuchung von gemeldeten Fällen. Sexueller Missbrauch ist zudem gesellschaftlich stigmatisiert, weswegen die meisten Frauen sich niemandem anvertrauen.

Üblich ist auch, Vergewaltigungsopfer mit ihren Tätern zu verheiraten. Das in den Palästinensergebieten geltende jordanische Recht erlässt Vergewaltigern die gesetzliche Verfolgung, wenn sie einer Ehe mit ihrem Opfer zustimmen.

Wachsende Arbeitslosigkeit, Armut und Anarchie unter israelischer Besatzung verschärften die Lage, so die Verfasser, die die Palästinenserbehörde dennoch nicht aus der Verantwortung entlassen. Nötig sei größere Aufklärung in der Bevölkerung und besseres Training der Polizei, Ärzte und Sozialdienste. Außerdem müssten mehr Frauenhäuser verfügbar sein. Im Westjordanland gibt es nur wenige, im Gaza-Streifen nicht ein einziges.

Die Frauen erwarten sich nicht nur keine Hilfe von ihren Familien, sondern müssen in bestimmten Situationen mit weiterer Gewalt rechnen. Es reicht, wenn eine Frau dabei beobachtet wird, mit einem Mann, der nicht zu ihrer Familie gehört, zu sprechen, oder wenn sie sich weigert, einem engen männlichen Verwandten mitzuteilen, wo und mit wem sie zusammen war.

Vor allem im Gaza-Streifen übernehmen anstelle männlicher Verwandter bisweilen auch selbst ernannte Kommandos zur Überwachung der Moral die Aufgabe, Ehebrecherinnen das Handwerk zu legen. Laut Bericht wurde im April 2005 eine 20-Jährige ermordet, als sie mit ihrem Verlobten spazierenging. Die Hamas verteilte anschließend Flugblätter, in denen erklärt wird, dass es sich um einen „Fehler“ gehandelt habe, deshalb sei der Mord zu bedauern. Ein Hamas-Sprecher erklärte: „Unsere Brüder haben einen Fehler gemacht. Es bestand der Verdacht auf unmoralisches Verhalten.“