: Justiz rächt sich an Demonstranten
BRASILIEN 23 Haftbefehle gegen angebliche Gewalttäter in Rio. Anwältin flieht in Konsulat
RIO DE JANEIRO taz | Kaum ist die Fußball-WM vorbei, schlägt die Justiz in Rio de Janeiro zu. Eine groß angelegte Polizeiaktion soll angeblich diejenigen festsetzen, die für gewalttätige Ausschreitungen verantwortlich sind. Im Blickfeld sind vor allem die Massendemonstrationen im Juni und Juli 2013, zur Generalprobe der WM, dem Confed-Cup. Ein Richter erließ am vergangenen Freitag Haftbefehl gegen 23 Demonstranten, die laut der Ermittlungsoperation „Firewall“ die Gewalt systematisch vorbereitet haben.
18 der Gesuchten sind flüchtig – laut Polizei hatte die Presse die Namen zu früh veröffentlicht, so dass sie untertauchen konnten. Eine Anwältin und ein 18-Jähriger flohen am Montag in das uruguayische Konsulat von Rio de Janeiro und baten um politisches Asyl – der erste Fall seit Ende der Militärdiktatur 1985. „Ich werde politisch verfolgt, schon seit Wochen wird mir geraten, mich von Demonstrationen fernzuhalten“, erklärte die Anwältin Eloisa Samy in einer Videobotschaft
Fünf weitere Verdächtigte wurden bereits festgenommen. Drei von ihnen schon am Tag vor dem WM-Finale, zusammen mit 25 weiteren, die inzwischen wieder entlassen werden mussten. Zwei weitere wurden bereits im Februar festgenommen und sind angeklagt, den Feuerwerkskörper gezündet zu haben, der einen Fotografen tödlich am Kopf verletzte.
Die Ermittlungen richten sich vor allem gegen die Unabhängige Volksfront FIP (Frente Independente Popular). Auf 2.000 Seiten werden Telefonmitschnitte, Aussagen von ehemaligen Mitstreitern und Spitzelberichte zusammengefasst, die eher wüsten Verschwörungstheorien gleichen als einer Ermittlung. Wutäußerungen über prügelnde Polizisten am Telefon werden als Mordabsicht interpretiert. Der sogenannten Rädelsführerin wird gar vorgeworfen, sie habe befohlen, das Abgeordnetenhaus in Brand zu setzen.
Die Juraprofessorin Vanessa de Oliveira Batista hält das Asylgesuch der Anwältin für einen nachvollziehbaren Schritt: „Theoretisch leben wir in einem demokratischen Rechtsstaat. Doch alle wissen, dass es Übergriffe gibt. Das Asylgesuch von Samy ist auch eine international sichtbare Anklage gegen politische Verfolgungen in Brasilien.“
Die Menschenrechtsorganisation Justiça Global bezeichnete die Festnahmen als „Einschüchterung und Angriff auf die Meinungsfreiheit“. Ein von 92 brasilianischen Juristen unterzeichnetes Manifest forderte „eine Ende der Kriminalisierung der Protestbewegung“ und verwies auf zahlreiche Ungereimtheiten bei den Ermittlungen. Auch zahlreiche Abgeordnete linker Parteien sprachen von „willkürlichen Haftbefehlen und haltlosen Vorwürfen“. ANDREAS BEHN