: Klauen, rauben, treten für den schnellen Genuß
Der Konkurrent lauert überall. Wenn die Klassengesellschaft sich auflöst, verschwindet auch das Soziale. Kids werden zu knallharten Hedonisten. Wilhelm Heitmeyer beobachtet seit zehn Jahren, warum ihre Gewalt zunimmt ■ Von Annette Rogalla
Matar ist stolz, sein Butterfly- Messer „noch niemals falsch eingesetzt zu haben“. Einige Male hat der 15jährige es anderen an die Gurgel gedrückt: „Als Drohung, damit die wissen, ich meine es ernst.“ Er meint es immer dann ernst, wenn er in sein Portemonnaie guckt und nur ein paar Silberlinge darin findet. Dann geht Matar auf Raubzug.
Vergangenen Montag legte er sich mit zwei Freunden vor einer Gesamtschule am Halemweg in Berlin-Spandau auf die Lauer. Sie mußten nicht lange warten, bis vorbeikam, was sie suchten. Eine Garhardt-Jacke, Farbe schokoladenbraun, Wert mindestens 200 Mark. Auf dem Rücken trug der Junge einen schwarzen Rucksack, Modell Eastpack, Ladenpreis 119,80 Mark. Das Gangstertrio stellte sich ihm in den Weg. „Ich brauchte nur das Messer zu zeigen, und er bekam weiche Knie.“ Für Matar „eine einfache Nummer“. Er zeigt keine Reue.
Matar lebt im Schatten der Gesellschaft. Er floh mit den Eltern und sieben Geschwistern aus dem Libanon. Das Sozialamt wies eine Dreizimmerwohnung zu, eine Arbeitsgenehmigung bekam niemand. Matar sagt, er sei arm. Das Gefühl kennen viele. Laut Statistik ist in Westdeutschland eins von zehn Kinder darauf angewiesen, vom Staat alimentiert zu werden. Die 100 Mark Taschengeld, die ihm seine Mutter am Monatsanfang zusteckt, reichen Matar nicht lange.
Beraubt, geschlagen und erpreßt zu werden, gehört offenbar zum Heranwachsen wie selbstverständlich dazu. Zu diesem Ergebnis kommt die neueste Gewaltstudie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Seit zehn Jahren untersucht er, was Schüler in Matars Alter mit 15 Jahren treiben. Über 50 Prozent der gerade strafmündig Gewordenen gesteht ein, bereits einmal ein Gewaltdelikt verübt zu haben. Vor zehn Jahren hatte sich noch jeder Dritte dazu bekannt. Nicht nur Jugendliche aus den Randzonen der Gesellschaft suchen sich schlagend ihren Weg durchs Leben. In Berlin zählte die Polizei 1994 insgesamt bei von Jugendlichen verübten räuberischen Erpressungen eine Zunahme um 47 Prozent. Und in puncto Gewalt stehen Gymnasiasten den Hauptschülern mittlerweile in nichts nach.
Nicht nur die pure Lust auf Gewalt treibt sie. Jeder dritte Jugendliche im Osten und mehr als jeder vierte im Westen meint, mittels Gewalt „klare Verhältnisse“ zu schaffen, während Erwachsene sich im Reden verlören und nicht mehr „wissen, was Sache ist“. Letzlich werde doch „alles über Gewalt geregelt“. Reden ist selbst in der Clique verpönt. In permanenter Verteidigungshaltung läuft ein Großteil der Jungmänner durch die Gegend. Im Westen sind es 49 Prozent, im Osten 56 Prozent. Für Heitmeyer ein „Indikator für die hohe Verunsicherung“.
Jugendliche reagieren auf die Verhältnisse, die sie umgeben. Heitmeyer weist in seiner knapp 500 Seiten starken Studie nach, daß ihre Gewalt einhergeht mit einer fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft, die alle Schichten umfaßt. Allenthalben wird das Individuelle als Sieg über vielfältige Zwänge und Klassenschranken gefeiert. So durchlässig wie heute waren die sozialen Schichten nie zuvor. Seinerzeit allerdings waren auch Biographien vorgefertigt. Heute sind Jugendliche viel häufiger selbst gezwungen, sich ihre Lebensläufe herzustellen und frühzeitig wegweisende Entscheidungen zu treffen. Eine Selbständigkeit, die enorm verunsichern kann. Auf diesem Nährboden können Aggressionen prächtig gedeihen. Kommen dann, wie bei Matar, kulturelle Entfremdung und sozialer Abstieg hinzu, verwundert es nicht, wenn Gewalt zum Mittel der Wahl wird. Etwa die Hälfte der Jungs und rund ein Drittel der Mädchen akzeptiert Gewalt, knapp jeder fünfte hat Messer, Gasspray oder einen Schläger bei sich. Ebenfalls jeder fünfte gab zu, in den vergangenen 12 Monaten mindestens einmal gewalttäig geworden zu sein.
Da die alten sozialen Klassen nicht mehr existieren, unterteilt auch Heitmeyer die Gesellschaft in neun verschiedene Milieus, die sich durch Konsumverhalten und Lebenseinstellung unterscheiden. Die ersten Plätze der Hierarchieskala nehmen das „konservativ-gehobene“ und „technokratisch-liberale Milieu“ ein. Sie haben die wenigsten Probleme. Kaum Gewalttäter tauchen auch im „traditionellen Arbeitermilieu“ auf, ihm fehle der Nachwuchs. Anfällig für Gewalt hingegen das „traditionslose Arbeitermilieu“. Im Westen rekrutieren sich hieraus 29 Prozent der Täter, im Osten knapp 40 Prozent. Obwohl gut mit Taschengeld ausgestattet, spüren diese Kids überdeutlich, daß sie die Verlierer von morgen sind: In ihrem Segment ist die Jugendarbeitslosigkeit am stärksten. Von ihren Familien wenig gestützt und kaum an Freunde gebunden, floaten sie als vereinzelte Individuen daher, zwar gehören sie zu einer Clique dazu, treffen dort allerdings auf wenig Gefühl, um so mehr aber auf den Druck, sich anzupassen. Rücksichtslosigkeit aus Lust auf den schnellen Genuß ist auch das Motiv, weswegen sich 38 Prozent des Nachwuchses aus der Kategorie „Hedonisten“ herumprügeln. Vorbehaltlos bejahen sie Fortschritt, Technik, Leistung und Aufstieg. Um jeden Preis wollen sie dabei sein, nach oben kommen. Jeder, der im Wege steht, ist ein Konkurrent, der weggeräumt werden muß. Die aufstiegsorientierten Hedonisten lassen sich überall finden: von der unteren bis in die obere Mittelschicht. So fies sich die keinen Darwinisten auch geben, die meisten wissen genau, wann die Grenze erreicht ist, wo der Staatsanwalt die Ermittlungen aufnimmt.
Vor allem in den Kreisen der Aufsteiger, traditionslosen Arbeiter und jungen Hedonisten beobachtete Heitmeyer auch eine erhöhte Bereitschaft zur fremdenfeindlich motivierten Gewalt. Diese Milieus machen die Mitte der Gesellschaft aus. Sie sind tonangebend.
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