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Beunruhigend

■ betr.: „Anklage gegen Nikitin erhoben“, taz vom 4.10. 96

Die Nachricht, wonach dem russischen Ökodissidenten Alexandr Nikitin wegen der Preisgabe von militärischen Geheimnissen die Todesstrafe drohe, muß über den konkreten Einzelfall hinaus beunruhigen. taz-Korrespondent Reinhard Wolff berichtet, die Todesstrafe werde Nikitin aufgrund eines geheimen Militärgesetzes angedroht. Dies verstößt augenscheinlich gleich mehrfach gegen die Verfassung der Russischen Föderation, in der es heißt:

a) „Jegliche normativen Rechtsakte, die die Rechte, Freiheiten und Pflichten des Menschen und Bürgers berühren, können nicht angewendet werden, wenn sie nicht offiziell zur allgemeinen Kenntnisnahme bekanntgemacht worden sind.“ (Art. 5, Abs. 3, Satz 3

b) „Die Todesstrafe kann bis zu ihrer Abschaffung durch föderales Gesetz als Ausnahmemaßnahme zur Ahndung besonders schwerer Verbrechen gegen das Leben festgelegt werden (...)“ (Art. 20, Abs. 2, 1. Hs. – Hervorhb. MaR)

Soweit man davon ausgehen darf, ich bin mir dessen nicht sicher, daß das Rückwirkungsverbot im Strafrecht („nulla poena sine lege“) als anerkannter Grundsatz des Völkerrechts gilt, würde eine Bestrafung Nikitins aufgrund eines nachträglich erlassenen Gesetzes auch gegen Verfassungsartikel 15 Abs. 4 verstoßen, der die Völkerrechtsgrundsätze zu Bestandteilen der russischen Rechtsordnung erklärt.

Was über den Einzelfall hinausgeht, ist folgendes: Die westliche Verfassungsgeschichte zeigt, daß sich erst aus den sogenannten „Justizgrundrechten“, also den Garantien des Bürgers im (Straf-)Gerichtsverfahren, alle weiteren Grundrechte (Religions- und Niederlassungsfreiheit, Leben, Eigentum etc.) entwickeln konnten. Wenn die russische Justiz Nikitin unter Verletzung von Verfahrensgrundrechten verurteilen sollte, wäre dies praktisch das Ende des – ohnehin rudimentären – russischen Rechtsstaates. Bereits die Einleitung des Strafverfahrens zeugt ja von der Mißachtung rechtsstaatlicher Mindeststandards.

Schade, daß die politische Linke im Westen so wenig empathisches Interesse an der rechtsstaatlichen Entwicklung der „neuen Demokratien“ weltweit zeigt. Martin Rath,

Langenfeld/Rheinland

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