■ Mögliche Orte: Nasse Zeiten
„Wegen widriger Umstände geschlossen“, steht schön geschrieben auf der Tafel vorn am Freibad Monbijou im gleichnamigen Park, Berlin-Mitte. Die Widrigkeit tritt alljährlich einmal ein, wird Herbst genannt und ist der Aggregatzustand der 3. Jahreszeit: flüssig zumeist und kommt von oben, weswegen die Freibäder der Stadt die Zeit lang überflüssig sind. Laub verstopft das Abflußrohr.
Der Park ist nach einer Preußenprinzessin benannt, die das Schlößchen als „mein Kleinod“ („bijou“ des Königs, das sie wirklich war) von Friedrich III. geschenkt bekommen hat. Der letzte Weltkrieg hat's geschleift, vis-à-vis vom ebenfalls geschliffenen Stadtschloß, geschickt von der Insel verdeckt, die damals noch kein Museum trug und keinen Touristen abzockenden Wochenendmarkt.
Das Freibad ist im Fundament des Schlößchens eingelassen und heute ein heftig frequentierter Ort. Strenggenommen ist der Titel „Freibad“ übertrieben, denn es handelt sich um zwei wohnzimmergroße Becken mittlerer Tiefe, in der nur zwergwüchsige Nichtschwimmer oder Menschen unter 3 Jahren ertrinken können. Das Phänomen am Ort aber besteht in der Mannschaft (Rettungsschwimmer-Crew), die das nasse Element bewacht. In meiner rund 25jährigen Erinnerung sind die schon immer hier gewesen. Sie wirken familiär und sehen aus, als ob sie alle Kowalski hießen — mit einem Schlag ins Müller-, Meier-, Schulze-hafte, vom Westen vermutlich „Ostproll“ genannt, der sich vom Westproll immer noch durch vorne kurze, hinten lange Schrumpffrisur und Dreieckbadehose unterscheidet. Sie sind die Saison über krebsbraun gebrannt, haben Goldkettchen an sämtlichen Gliedmaßen, sind mit altmodischen Tätowierungen bedeckt und tragen alle Bauch.
Wird das Bad am Abend nach Stunden fetziger Hundert,6-Schlagermusik – nur unterbrochen von den ewig gleichen Bademeisterdrohungen („Springnochmalvomranddu...“) – durch keifende Lautsprecherkommandos („frei“-Bad) geleert, springen sie selber ins plurrige Becken und werfen sich fröhliche Tierlaute zu. Nach Feierabend ist auch Fremdnutzung möglich, wie zur Love Parade 95, als im trockenen Becken Hunderte Techno-Touristen über- und untereinander durch ihre virtuellen Wellen ravten.
Die Wiesen um das Naß sind bei schönem Wetter derart dicht von Menschen auf Handtüchern bedeckt, daß niemand darüber laufen kann ohne wen zu treten. Weshalb ununterbrochen abwechselnd grausige Flüche und nicht weniger grausige Entschuldigungen, von Schimpfworten durchsetzt, über das Gelände wehen. Der erwachsene Teil ist dem der Kinder gleich an Zahl, wobei die Volljährigen meist männlichen Geschlechts sind, an mitgebrachten aufklappbaren Tischen hocken und sich Skat kloppend mit Pilsner aus grünen Dosen vollaufen lassen. Wenn ich also auf der Suche nach meiner Tochter im überfüllten Bekken bin, muß ich auf Kriegspfad durch abgezirkeltes Privatgelände trampeln, behutsam über Hundeschwänze, oder noch behutsamer im Handstand durch das bunte Schlachtfeld stiefeln. Aber niemand liebt mich dafür.
Zum Glück erkenne ich mein Kind an der niedlichen Stimme, die ziemlich ordinär klingen kann, besonders dann, wenn sie einem, vermutlich ebenfalls ein Kind, das „Fick dich selber, Arschloch“ rüberreicht. Das Grußwort ist hier oft zu hören, meine Tochter kenn' ich immer am Appendix, das Arschloch wird von den anderen meist weggelassen. Sonst verbringe ich die Wartezeit auf das noch schwimmunfähige Kind mit Betrachtungen geschätzter Kinderschänder, die mit Hund und Sonnenbrille das umzäunte Sperrgebiet umschleichen. Und sehne mich in die Bäder meiner Kindheit zurück, die eher am Rande von Berlin lagen und jetzt für immer geschlossen sind. Zum Beispiel das Flußbad (später: Luftbad) Oberspree mit seinen Sprungtürmen aus Holz und der Illusion, daß die Spree vor 20 Jahren noch sauber war. Jedenfalls konnte man dort mit gelungenem Köpper direkt in vorbeischippernde Lastkähne hechten und sich nach Polen oder Westen treiben lassen. Aber das soll nur einmal geklappt haben.
Und wenn ich in Mitte draußen auf dem Rücken liege, ein nutzloses Buch an der Seite, fallen mir all die anderen feuchten Orte meiner Vita wieder ein. Das schöne alte Pissoir unter den Gaslaternen in Adlershof, das immer stank, daß selbst die Hunde einen Bogen machten, während wir uns reinschlichen (falls kein Großer drinnenstand) und uns im Zwielicht über die noch nicht „Graffiti“ genannten Klosprüche amüsierten. Pinkeln war'n wir dort nie, das haben wir an der Friedhofsmauer getan, wo wir die mühsam erklommene Höhe des Strahls mit geklauter Kreide aus der Schule markierten. Aber das war noch ein anderes Jahrhundert.
Ein weiterer feuchter Ort meiner Kindheit existiert noch, es ist das von Döblin im „Alexanderplatz“ erwähnte Schwimmbad Gartenstraße, wo ich zum ersten und letzten Mal oben auf dem 10er stand und nicht sprang, weil ich nicht schwimmen konnte mit meinem großen „N“ auf der Kappe. Ein Besuch dort war für uns immer ein Abenteuer, nicht wegen der Absaufgefahr, sondern wegen der halbstündigen Fahrt von Treptow „in die Stadt“ nach Mitte, was mitten an der Grenze war. Der Fußweg vom Marx- Engels-Platz an Restruinen vorbei, die damals noch nicht Tacheles hießen, war ein Ausflug in die fremde Welt, sehr viel authentischer als der langweilige Adlershofer Wald (der eigentlich Köllnische Heide heißt) mit Blindgängern in seinen Kratern und dem Mann, der, nur mit Lendenschurz bekleidet, uns immer wohin tragen wollte. Und während ich das rückwärts denke, stehe ich vor den „widrigen Umständen“, Sehnsucht in der Brust nach den vielen feuchten Orten meines trockenen Lebens. Sehnsucht und Trockenheit können sofort in der Parkrestauration „Monbijou“ gestillt werden, wo Familie Kowalski bedient, und, wie es scheint, hauptsächlich sich selber, denn das Ding ist innen immer leer wie ein Freibad ohne Saison. Gerd Gabel
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