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Über die Zukunft redet keiner

Viele Vereine trugen den Krieg aus und gingen kaputt. Einer hat überlebt: Beim SV Radnik kicken weiter Bosnier, Serben, Slowenen, Kroaten zusammen  ■ Von Eva Baumann-Lerch

Gießen (taz) – Grau ist der Herbst auf dem Sportplatz an der Gießener Ringallee. Vor dem Vereinsheim auf dem Aschenparkplatz stehen vereinzelt Autos. Besucher in grünen Anoraks stampfen mit Schnürschuhen die ersten braunen Blätter in die matschigen Wege. Auf dem Spielfeld spielen zwei Teams in lila und blauen Trikots um Kreisliga-B-Punkte. Die zweite Halbzeit hat begonnen, es steht 1:0 für die Gäste.

Die Zuschauer – es sind kaum mehr als Spieler – hängen gutgestimmt über der Platzbegrenzung und kommentieren das Spielgeschehen. Bei diesem Wetter schmeckt das Flaschenbier fade, aber es macht Laune. Es wäre das gewöhnlichste Fußballspiel der Welt – wenn die gastgebende Mannschaft nicht Radnik hieße, was soviel wie Arbeiter heißt. Und wenn die Spieler nicht aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien kämen: Es sind Bosnier, Serben, Slowenen und Kroaten.

„Unser Verein in Gießen hat den Krieg in Jugoslawien ohne schlimmen Streit überstanden“, sagt Ahmet Cekrić. Er war früher im Vorstand. „Ähnliche Klubs in anderen deutschen Städten haben den Krieg in der Heimat auf Vereinsebene ausgetragen. Fast alle sind kaputtgegangen oder haben sich auf eine Volksgruppe beschränkt. Und in unserer Heimat ist eine solche Vereinigung überhaupt nicht mehr denkbar.“

Am Rande des Spielfelds ruft der Bosnier Cekrić andere Vereinsmitglieder zusammen: den Serben Risto Porobić, den Kroaten Stepan Tomljanović, den Bosnier Fahir Hodziabdić. Alle sind sie um die 40, früher aktive Spieler des SV Radnik, langjährige Vorstandsmitglieder. „Mit diesen Leuten kann ich reden“, sagt Risto Porobić, „auch über den Krieg zu Hause, auch wenn ich anderer Meinung bin. Mit solchen Leuten kann ich auch weiter zusammen spielen.“

Ein kurzer Aufschrei geht durch die Gruppe: Elfmeter für die anderen. Torhüter Cemal Kaus kann ihn nicht halten, es steht 2:0 für den SV Langd. Resignation macht sich breit. Radnik hat zwar überlebt, aber war auch schon mal erfolgreicher. Eigentlich war er mehr als nur ein Fußballklub. Als „Jugoslawischer Sport- und Kulturverein Jugoradnik“ wurde er 1975 in Gießen von jugoslawischen Arbeitern gegründet. Er unterhielt eine Musik-, eine Schach- und eine Folkloregruppe und ein geräumiges Begegnungszentrum. Der Fußball war nur eine von mehreren Abteilungen in einem Verein mit über 250 Mitgliedern. „Bis zum Ausbruch des Krieges“, sagt Ahmet Cekrić, „haben wir uns über Politik fast überhaupt nicht gestritten. Neue Mitglieder und Besucher aus Jugoslawien haben sich immer gewundert. Damals hat es da unten schon gebrodelt.“

Jährlich fuhr ein Bus mit Jugoradnik-Mitgliedern und ihren Freunden nach Jugoslawien, zumeist nach Zenica, nördlich von Sarajevo. Viele Gießener saßen mit im Bus, auch Bürgermeister Lothar Schüler. Die Lokalpresse bezeichnete Jugoradnik 1984 als „Vorzeigeverein“ und als „Musterbeispiel für die gelungene Integration ausländischer Mitbürger“.

Als der Krieg da war, schlug sich das nicht in Streitereien nieder, aber in schwindenden Mitgliederzahlen. Und zwar immer in der Reihenfolge des Kriegsverlaufs: „Als es in Slowenien anfing, blieben die Slowenen weg“, sagt Ahmet Cekrić, „als der Krieg nach Kroatien übergriff, kamen die Kroaten nicht mehr.“ Die Bosnier als letzte betroffene Gruppe sind dann in der Mehrheit geblieben. Sie stellen mittlerweile 70 Prozent der Mitglieder.

Innerhalb von drei Jahren sank die Mitgliederzahl von gut 250 auf unter 50 Mitglieder. Die verbleibenden Beiträge reichten nicht mehr aus, um die Miete der Vereinsräume zu finanzieren. Die einzige Abteilung, die überhaupt noch eine Zukunft hatte, war der Fußball. 1992 benannte man sich in SV Radnik um. Der jugoslawische Arbeiterverein war zum Fußballklub geschrumpft.

Auf dem Platz rauscht der dritte Ball ins Tor der Radniks. „Die alte Garde hält noch zusammen“, sagen draußen Porobić, Tomljanović, Hodziabdić und Cekrić. Die aktiven Fußballer sind allerdings fast nur noch Bosnier. Flüchtlinge, die erst der Krieg nach Gießen verschlagen hat, stellen die Hälfte der Spieler.

Auch fußballerisch ist Radnik auf dem Rückzug: „Wir spielen schlecht“, sagt der zweite Vorsitzende Sefic Ermin beim Bier im Sportlerheim nach der 3:0-Niederlage und schüttelt den Kopf. Die Personaldecke ist dünn.

Die Zukunft? Über die Zukunft redet man nicht viel. Sadik Sahiwowić, ein Flüchtling aus Montenegro, hat mit Fußball eigentlich nichts am Hut. Dennoch ist er bei jedem Spiel dabei. Er würde gern zurück, „aber in mein Haus“. Das steht in Bosawska Gradiška, Serbisch-Montenegro, und dorthin kann er ganz sicher nicht zurück, auch wenn er hier im Sportlerheim mit Serben an einem Tisch sitzt und auf die Niederlage trinkt.

Der Himmel ist grau, der Platz ist matschig. Wenn erst die Zwangsrückführung der bosnischen Flüchtlinge beginnt, ahnt Sefic Ermin, „sieht es schlecht aus“.

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