: Wer nicht mithüpft, der ist ein Roter
Die täglichen Massendemonstrationen in der Hauptstadt von Bulgarien sind eine Mischung aus Happening und Protest. Die sozialistische Regierung steckt in der Defensive und bewegt sich nicht ■ Aus Sofia Barbara Oertel
„Nein zu Straßenprotesten! Nein zu spontanen Aktionen! Nein zu Gewalt! Ja zu Ordnung und Gesetz!“ mahnt die bulgarische Tageszeitung Duma, das Sprachrohr der sozialistischen Partei BSP, in riesigen Lettern auf der ersten Seite. Doch die Menschen in der Hauptstadt Sofia leben in diesen Tagen nach ihren eigenen Gesetzen. Jeden Tag ab vier Uhr nachmittags sammeln sich Zehntausende im Zentrum und ziehen zur Alexander-Newski-Kathedrale. Einige hundert Meter vor der Straße, die zur Kathedrale führt, auf dem Vasil-Levsky-Boulevard, ist dann kein Durchkommen mehr.
Schwerfällig schieben sich die Massen vorbei an mehreren Dutzend Polizeikräften, die das Parlament abriegeln. Bewaffnet mit Schlagstöcken und verbarrikadiert hinter Plexiglasschilden, sehen sie teilsnahmslos zu, wie das Volk an ihnen vorbeidefiliert. Kinder halten Luftballons in der Hand, Erwachsene schwenken Fahnen: die bulgarische und immer wieder die blaue, das Symbol der oppositionelle Union der Demokratischen Kräfte (SDS).
Vor der Kathedrale sind mehrere große Lautsprecher aufgebaut, aus denen bulgarischer Ethnopop dröhnt. Darüber ist ein großes, blaues Transparent aufgespannt: „SDS-Sofia“. Die Menschen sind ausgelassen, junge Leute fallen sich in die Arme. Eine Gruppe von Demonstranten tanzt den Choro, einen bulgarischen Volkstanz. Immer mehr reihen sich ein in den Kreis, Alte und Junge, der sich langsam über den Platz bewegt. Plötzlich geht ein Ruck durch die Menge. Alle beginnen zu hüpfen und rufen: „Wer nicht springt, ist rot“ – eine Anspielung darauf, daß die Mehrheit der Mitglieder der noch regierenden Sozialistischen Partei (BSP) wohl besser in der Geriatrie untergebracht wäre.
„In Serbien demonstrieren sie ja auch“
„Wir werden jeden Tag hierher kommen bis zum Sieg“, sagt Javor Janakiew. Mit seinem Freund Miro steht der 22jährige Slawistikstudent schon den neunten Tag auf dem Platz an der Alexander-Newski-Kathedrale. Die Studenten, die mittlerweile fast die größte Gruppe der Demonstranten stellen, haben jetzt Zeit. Vor zwei Tagen gab der Rektor der Universität Sofias, Iwan Laloff, bekannt, daß die Prüfungen zum Semesterende wegen der Proteste um eine Woche verschoben werden. „In Serbien demonstrieren sie doch auch schon fast zwei Monate“, sagt Javor. Doch gehe es dort um etwas anderes. „Die Serben gehen für Demokratie und Pressefreiheit auf die Straße. Wir hier protestieren gegen die wirtschaftliche Lage. Die Menschen haben ein durchschnittliches Monatseinkommen von 15.000 Lewa (rund 30 Dollar). Wie soll man davon leben?“
Darauf hat die Regierung bis jetzt noch keine Antwort gegeben. Statt dessen erklärte der Vorsitzende der BSP-Fraktion, Georgi Parwanow, zum wiederholten Male, daß er entgegen den Forderungen der Opposition bis zu den Neuwahlen am sozialistischen Exinnenminister Nikolai Dobrew als Nachfolger für den zurückgetretenen Premierminister Schan Widenow festhalten will. Als die BSP am Mittwoch abend im Parlament ihr Antikrisenprogramm erläuterte, waren die Stuhlreihen der Opposition leer. Ein Vorgeschmack darauf, wie die Exkommunisten die Lage in den Griff bekommen wollen, erhielten die Bulgaren bereits am nächsten Tag: Trud, die größte unabhängige Tageszeitung, meldete, daß die Brotpreise zum 1. Februar von 200 auf 500 Lewa (rund 1,30 Mark) steigen werden. „Roter Müll“, „Die BSP ist eine Mafia“, „Sozialisten fahrt zu Hölle“, hallt es in Sprechchören über den Platz. Und immer wieder „Wer nicht springt, ist rot“.
„Die Opposition hat auch schon mal versagt“
Minena Andonova steht etwas abseits vom Geschehen. „Eigentlich bin ich glücklich über das, was passiert“, sagt die 38jährige Filmemacherin, „aber ich habe auch große Angst. 1989 herrschte hier die gleiche Euphorie, doch wir wurden enttäuscht. Als die Opposition von 1991 bis 1992 an der Macht war, hat auch sie versagt. Und was ist, wenn die SDS jetzt die gleichen Fehler wieder macht?“
Langsam leert sich der Platz vor der Alexander-Newski-Kathedrale. Als die ersten langsamen Melodien erklingen, recken sich unzählige Arme mit dem Victory-Zeichen in die Höhe. „Wir werden wiederkommen bis zum endgültigen Sieg! schreit ein Mann. „Wir werden wiederkommen, die SDS wird siegen!“ skandiert die Menge. Und es wird der letzte Song dieses Abends gespielt: „Imagine...“
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