Der Sozialstaat – ein rechtlich unantastbares Tabu?

■ betr.: „Die Arroganz der Tabubre cher“, taz vom 4. 4. 97 sowie Be richterstattung zu geplanten Sozi alhilfekürzungen

Das Prinzip des Sozialstaates, so schreibt Stefan Reinecke mit recht, gerät von seiten der Koalitionspolitiker mehr und mehr unter ideologischen Beschuß. Wenn er fordert, daß das Sozialstaatsprinzip demgegenüber ein „politisches Tabu“ bleiben müsse, so muß daran erinnert werden, daß dieses Prinzip nach dem Grundgesetz längst ein rechtliches Tabu ist:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. So lautet Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Nach Artikel 20 Absatz 1 ist die Bundesrepublik ein sozialer Staat. Die überragende Bedeutung dieser Grundsätze zeigt sich darin, daß sie nicht einmal auf dem Wege der Verfassungsänderung beseitigt oder geändert werden können (Artikel 79 Absatz 3).

Es ist das Verdienst der Gerichte, vor allem des Bundesverfassungsgerichts, diese allgemeinen Sätze so konkretisiert zu haben, daß danach jeder Mensch (auch jeder Ausländer) in der Bundesrepublik einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf öffentliche Fürsorge hat, einen in der Verfassung selbst wurzelnden Anspruch auf menschenwürdige Lebensbedingungen. Dazu gehört eine ausreichende materielle Grundlage, die den Menschen vor allem vor Hunger und Obdachlosigkeit schützt und ihm eine optimale Krankenbehandlung ermöglicht. Was im einzelnen sonst dazugehört, darüber kann man sicher streiten und muß es notfalls vor den Gerichten. Ein Beispiel: Ich bin sicher, daß niemand in unserem Lande in Lumpen oder in abgelegten Kleidern Dritter herumlaufen muß. Auch muß es jedem möglich sein, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen (Radio, Tageszeitung).

Dem Sozialstaatsprinzip gegenüber ist das sogenannte Lohnabstandsgebot ohne jede Bedeutung. Sollte es wirklich vorkommen, daß ein Facharbeiter mit Familie weniger verdient als ein Sozialhilfeempfänger (unter vergleichbaren Lebensbedingungen wie Kinderzahl, Miethöhe etc.), dann kann das nicht den grundgesetzlich gesicherten Anspruch auf Sozialhilfe schmälern.

Es würde nur zeigen, daß man auch in unserem Lande – wie längst in den USA und in England – in manchen Fällen von seinem Arbeitsverdienst nicht mehr leben kann. Wolfgang Rebitzki, Richter am

Bundesgerichtshof a.D., Berlin