: Zur Schule über die Grenze
Warum die Brauses aus Hartau ihre Tochter Rosine in eine tschechische Schule schicken und die deutschen Behörden das auf keinen Fall dulden wollen ■ Aus Hartau und Hrádek Jens Rübsam
Anfangs noch hatte ein großes Wort das andere gegeben. Kathrin Brause war in der Wohnküche auf und ab gegangen, Bertram, den Jüngsten, auf dem Arm; sie sprach von „Zweisprachigkeit als Chance“. Bert Brause hatte im Schaukelstuhl gesessen, Lovis, die Zweitjüngste, schlief im Schoß; er redete vom „zusammenwachsenden Europa“. Später, kurz vor Mitternacht, die drei Kerzen im schweren Leuchter an der Decke waren fast abgebrannt, hatte Kathrin zugegeben: „Jedes Kind muß doch ein Stück weit die Träume der Eltern erfüllen“; Bert war nicht davor zurückgeschreckt, die Schulpflicht als die „größte Freiheitsberaubung durch den Staat“ zu bezeichnen. Da hatten Brauses aufgehört, große Worte zu bemühen, und angefangen ihre Geschichte zu erzählen. Und an deren Ende war ein wenig nachvollziehbar geworden, warum sie Rosine, 8, ihre älteste Tochter, im vergangenen Jahr in eine tschechische Schule gaben und nicht in eine deutsche.
Es hat damit zu tun, daß sie ihr eigenes Leben führen und trotzdem akzeptiert werden wollen.
Statt dessen sind sie nun der „Fall Brause“. Das staatliche Schulamt Löbau, das Oberschulamt Dresden und das Verwaltungsgericht Dresden verweisen auf die gesetzlich vorgeschriebene Schulpflicht im Freistaat Sachsen. „Die kann auch nicht an einer staatlichen ausländischen Schule erfüllt werden“, heißt es in einem Gerichtsbeschluß, „da bei einer Beschulung in einer tschechischen Grundschule keine Grundfertigkeiten wie schreiben, lesen und rechnen in der Muttersprache vermittelt werden können.“ Zwischenzeitlich wurde sogar angedroht, Rosine mit Polizeigewalt in eine deutsche Schule zu zwingen. Nunmehr wird in Erwägung gezogen, das Vormundschaftsgericht hinzuziehen. Die Eltern kämen ihrer Sorgepflicht, die die Schulpflicht einschließe, nicht nach.
„Wir werden in dieser Sache keine Kompromisse machen. Eher wandern wir aus“, hatte Kathrin Brause, 29, in der vorigen Nacht noch gesagt, und Bert Brause, 28, hatte hinzugefügt: „Auswandern nach Tschechland.“ Dann hatten sie sich schlafen gelegt.
Schöner kann ein Morgen nicht beginnen: In Hartau, einem kleinen Dorf in der Oberlausitz, fällt weißes Licht vom Himmel, vorm alten Bauernhaus der Brauses lärmen die Vögel. Bert steht an der Anrichte und macht Kleiebrei. Auf der Fensterbank sitzt Jotham, mit sechs der Zweitälteste, und fragt sich, was für ein Wunder heute wohl geschehen wird. Gestern hat er entdeckt, daß die Blumen vorm Haus wieder ein Stück gewachsen sind, „das war ein Wunder“. Kathrin Brause flicht Rosine, der Ältesten, die Zöpfe. Simon, der Mittlere der fünf Brause-Kinder, wackelt auf seinem Stuhl und wartet auf das Frühstück. Wie immer gibt es Getreide mit Honig und Trockenfrüchten. All das erinnert ein wenig an die Großfamilie Ingalls von der „Kleinen Farm“ aus der 80er-Jahre-Fernsehserie.
Vor zweieinhalb Jahren sind Brauses in das Grenzdorf Hartau gezogen. Das Haus stand leer, hatte viele Risse und noch mehr verwahrloste Räume, dafür aber ein guterhaltenes Dach. 10 Mark hat es gekostet, 25 Mark der Quadratmeter Grundstück, insgesamt 5.000 Mark, bezahlbar für Brauses, die ihr Studium abgebrochen und auf der Suche waren nach einem Ort, wo sie verwirklichen konnten, was für sie Leben heißt. Leben für sich selbst, Leben für die Kinder. Strom nur für die Waschmaschine, für die Getreidemühle, die Nähmaschine und das Bügeleisen. Holz für den Herd und für den Ofen. Plumpsklo. Keine Tiere, „wir sind Vegetarier“. Milch wird zweimal in der Woche in Tschechien gekauft, Obst, Gemüse und Getreide auch. Tschechien fängt 500 Meter hinterm Haus an.
Dahin sind Bert und Rosine an diesem Morgen unterwegs. Um halb acht verlassen sie Hartau mit dem Rad. Es geht die Dorfstraße hinauf, über die grüne Grenze, die aus zwei Holzhäuschen und einem halben Schlagbaum besteht, weiter in die Stadt Hrádek auf der anderen Seite der Neiße. Um zehn vor acht sind sie an der Schule. „Dobrý den“ sagt die Lehrerin. Rosine lächelt und setzt sich neben Lukacz in die dritte Reihe. Sie packt ein Buch aus, „Slabikar“ steht darauf, lustig schaut sie in die Runde. Zwei Stunden Tschechisch, Mathematik und Sachkunde hat sie heute. Jaroslav Poláček, der Schulleiter, hat den Brauses bescheinigt: „Rosine ist fleißig und strebsam.“ Sie komme in allen Fächern gut mit. „Man kann voraussehen, daß sie die kleinen Schwierigkeiten in der tschechischen Sprache bis Juni 98 bewältigt.“ Nicht das Verstehen, das Sprechen und Schreiben fallen Rosine noch schwer. „Muži a ženy“, „Männer und Frauen“ übt sie vorsichtig, und dann „Tata je maz, mama jé žena“, „Vater ist ein Mann, Mutter eine Frau.“ Die Worte kommen langsam.
Schnell hatten dagegen staatliche Stellen viele gute Gründe parat, als es zu erklären galt, warum ein deutsches Kind nicht an einer tschechischen Schule lernen kann. Das Oberschulamt Dresden ließ mitteilen: „Rosine wächst nicht tatsächlich bilinguar auf, da Deutschunterricht in Hradek nicht gegeben wird. Die Vergleichbarkeit der Ausbildungsinhalte ist nicht gewährleistet, so daß ein Wechsel an weiterführende Schulen im Freistaat Sachsen nicht gewährleistet werden kann.“ Das Verwaltungsgericht merkte in seiner Ablehnung einer Ausnahmegenehmigung für Rosine an: „Fremdsprachen können auch durch Privatunterricht erreicht werden.“ Auf behördlicher Seite war man sich einig: Rosine muß in eine deutsche Schule, in die Wilhelm-Busch-Grundschule, Zittau. Dort sollte sie am 1. September 1997 eingeschult werden. Schulleiterin Bergmann würde sie „sofort“ in die 1. Klasse integrieren, wenn Brauses sich umentscheiden würden. Aber für Kathrin Brause kommt das nicht Frage. Ihre eigene Geschichte steht ihr im Weg, „mir ging's nicht gut in der Schule“. Typischer DDR-Neubau, mehr toter Klotz als lebendige Schule, in der Nähe eine NVA-Kaserne, ihre Mitschüler Offizierssöhne und -töchter, ihre Lehrer darauf aus, die Kinder alsbald auf den Weg des geringsten Widerstandes zu eichen, „ein Horrorsystem“. Es klingt verbittert, wenn sie von ihrer Schulzeit im thüringischen Bad Salzungen erzählt. Bei Verbitterung ist es geblieben. Hat sich nicht inzwischen etwas verändert? Nein. Es geht um Grundsätzliches. Um das „autoritäre deutsche Schulsystem“, den vom Staat „auferlegten Zwang der Schulpflicht“.
Brauses sind die ersten, die im Freistaat Sachsen einen Antrag auf Befreiung von der Schulpflicht gestellt haben; die ersten, die ihr Kind in eine tschechische Schule geben, „weil sie hier eine andere Sprache erlernen kann“. Der nennenswerteste Vorteil. Daß das Schulsystem in Tschechien nicht weniger starr ist als in Deutschland, das wissen sie wohl.
„Jedes Kind muß Träume der Eltern erfüllen“
Kathrin Brause sitzt am langen Holztisch in der Wohnküche, bügelt geduldig Wäscheberge ab, auf dem Rücken im Tragetuch Bertram, den Jüngsten, sieben Wochen alt. Lovis sitzt auf dem Töpfchen und macht ihr Geschäft. Simon tollt durch den Raum, landet am Küchenschrank und kramt eine Packung Knäckebrot heraus. Es hat den Anschein, als habe sich Kathrin Brause hier, zwischen Holzbank, Herd und Anrichte verschanzt und die Familie gleich mit. „Jedes Kind muß die Träume der Eltern erfüllen“, hatte sie am Abend vorher gesagt. Wäre da nicht Jotham, der draußen auf der ständigen Suche nach neuen Wundern ist – später wird er es gefunden haben: „Zwei gute Stückchen Holz, gut, um Klanghölzer daraus zu schnitzen“; wäre da nicht Bert, der morgens mit Rosine nach Hrádek fährt und sie mittags kurz vor zwölf wieder abholt, die Brauses hätten ihre Welt auf ein paar Quadratmetern eingezäunt. Die Nachbarn sprechen von Zugezogenen. Das ist nicht ganz untypisch für die Oberlausitzer, die als verschroben gelten. Aber Brauses sind auch nicht auf sie zugegangen. Keinen Schritt. Die Nachbarn haben ihren Kindern verboten, mit denen der Brauses zu spielen. Jotham sagt, einmal habe er mit einer alten Frau aus dem Dorf gesprochen. Und sonst? „Ich habe meine Geschwister, das reicht mir.“
Bert Brause kommt aus Hradek zurück, im Rucksack die Einkäufe, Obst und Gemüse für insgesamt 420 Kronen, umgerechnet gut 25 Mark. Brauses bekommen monatlich 2.640 Mark Kinder- und Erziehungsgeld. „Das ist reichlich.“ Sagt's, überlegt einen Moment, schaut auf das Haus, auf die rechte Seite, die abzurutschen droht, in der Mauer ist ein langer Riß. „Fürs Bauen reicht's natürlich nicht.“ Geld vom Staat nehmen und dessen Spielregeln nicht anerkennen? Für einen Moment wird Bert Brause laut, was sonst nicht seine Art ist. „Das ist doch das Geld für die Arbeit des Kindererziehens“, formuliert er hölzern. Dreht sich um, geht ins Haus, in die Küche, Rosine hat sich Hefebrot gewünscht.
Der Vormittag geht dahin, mit Hausarbeit und Kinderbetreuung. Auch der Nachmittag wird dahingehen. Der Abend. Der nächste Tag. Nur am Mittwoch verläßt Bert Brause nachmittags noch einmal das Bauernhaus in Hartau und fährt mit dem Rad hinüber in die Schule in Hrádek nad Nisou, um zehn Kindern aus Rosines Klasse Deutsch beizubringen.
Inzwischen hat sich das Oberschulamt Dresden von der Äußerung eines Mitarbeiters distanziert, Rosine mit Polizeigewalt in die Zittauer Schule zu zwingen. „Das wäre ja furchtbar für das Kind“, sagt eine Sprecherin. Sie hofft noch auf die Einsicht der Brauses. Und wenn die nicht einlenken? „Dann fordern wir auf ordnungsrechtlichem Wege Zwangsgelder.“ Wenn das nichts nützt? „Dann wird wohl das Vormundschaftsgericht hinzugezogen.“ Vorher werden Brauses ausgewandert sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen