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Archiv-Artikel

Kalte Wucht

Entschieden für Bilder sein – oder für Worte: In Duisburg konnte man beider 30. Dokumentarfilmwoche sehen und hören, dass weniger oft mehr ist

von STEFAN REINECKE

Wir blicken auf eine Leiche. Die Bestatter streifen Gummihandschuhe über. Sie ziehen dem Toten ein neues Hemd an, ein Jackett, einen Schlips. Die Leiche soll repräsentativ aussehen, wie im Leben, ein letztes Mal. Dann wird der Tote in den Sarg gelegt. Die Hände werden über der Decke gefaltet. Das soll friedlich wirken, das Weiß des Satins unschuldig. Die Hände fallen herunter. Der Leichenbestatter faltet sie energisch. Der Sarg wird geschlossen. Es fällt kein Wort.

Eine Parallelmontage zeigt, wie die Wohnung des Toten ausgeräumt wird. Was kürzlich noch persönlicher Besitz war, ist jetzt Gerümpel, was eine Identität bezeichnete, Müll. Die Kamera registriert scheinbar neutral Arbeitsvorgänge. Nur als der Sarg geschlossen wird, zoomt die Kamera auf das Antlitz des Toten. So als wolle sie einen letzten Blick festhalten und sich mit dem Endgültigen nicht abfinden.

„Nicht mehr“ heißt der Film. Er protokolliert ein Verschwinden: genau und nüchtern, unterbrochen von ein paar melodramatischen Miniaturen. Die Autorin ist Karin Jurschick, der Tote ihr Vater. „Nicht mehr“ ist ein kurzer, halbstündiger Film über den Tod, ästhetisch reduziert auf das Nötige. Kaum Worte, nur Bilder, die zeigen, was geschieht. Es ist ein kühler, sprachloser letzter Blick der Tochter auf den Vater. „Nicht mehr“ hat keine These, welche denn auch. Aber eine kalte Wucht, die den Wahrnehmungsfilter, mit dem wir uns den Tod vom Leib halten, handstreichartig außer Kraft setzt.

„Nicht mehr“ ist formal vielleicht typisch für eine Verknappung ästhetischer Mittel. Das ist kein neuer dokumentarischer Purismus – es geht eher um die Konzentration auf Bilder oder Töne, auf Montagen, die vom dokumentarischen Normalmaß abweichen.

Der bildermächtigste Film in Duisburg war Nikolaus Geyrhalters „Unser täglich Brot“, eine visuelle Reise durch die industrielle Hochleistungslandwirtschaft. Geyrhalter zeigt in achsensymmetrischen Tableaus endlose Kornfelder, immer wieder fährt die Kamera durch scheinbar menschenleere Tomatenzuchtanlagen. Es gibt keine Interviews mit Arbeitern, dafür Bilderbögen von kalter Schönheit, die wie fotografische Stillleben wirken. Auch die serielle Tötung von Fischen, Kühen, Schweinen und Hühnern ist zu sehen – auch Blut spritzt. Doch der Schrecken, der diesen Bildern innewohnt, ist subtiler. Die Äcker, die Treib- und Schlachthäuser scheinen ebenso menschenleer zu sein wie die Autofabriken. Wir sehen eine Maschinenwelt, ein System, dessen Perfektion seine Perversion ist. „Unser täglich Brot“ ist kein Splatter-, eher ein Science-Fiction-Film. Wenn Kubrick eine Dokumentation über die Agrarindustrie gedreht hätte, sie hätte so ähnlich ausgesehen.

„Unser täglich Brot“ zeigt einen Albtraum von Ordnung und Effizienz, den wir täglich als Konsumenten im Supermarkt in Gang halten. Seine Wucht verdankt er auch einer Aussparung: keine Interviews, kein Kommentar, keine moralischen Haltegriffe. Es werden keine Schuldigen dingfest gemacht und keine Konzernchefs vorgeführt. Wie bei Jurschick ist keine These in Sicht. Nur fassungsloses Staunen.

Auf der anderen Seite des ästhetischen Spektrums waren in Duisburg Filme zu sehen – oder besser: zu hören –, in denen die Bilder den Worten Untertan sind. Hörfilme, die mit ähnlich radikalen Aussparungen arbeiten wie Geyrhalter. In Romuald Kamarkars „Hamburger Lektionen“ hören wir mehr als zwei Stunden dem Schauspieler Manfred Zapatka zu, der Predigten des fundamentalistischen Imam Fazazi vorträgt. Zapatka spricht betont neutral, die Mimik ist knapp, die Kamera oft unbewegt. Nichts soll ablenken von der Binnenlogik des Textes. So taucht man in die Ideenwelt eines islamistischen Hasspredigers ein – und entdeckt eine Rationalität, die christlicher Textexegese und marxistischer Ableitungslogik in ihrer Struktur verblüffend ähnlich ist.

Beides, Bilder- und Hörfilme, sind Versuche, der medialen Zerstreuungsmaschine etwas entgegenzusetzen und sich der Einsperrung des Dokumentarischen in TV-kompatible Formate zu widersetzen. In diesen Trend passt auch Christoph Hübners „Thomas Harlan – Wandersplitter“, ebenfalls ein Hörfilm, allerdings nicht stilisiert wie bei Kamarkar, sondern improvisiert. Ein alter, kranker Mann schaut aus dem Fenster einer Lungenklinik in Bayern und sagt: „Da ist der Obersalzberg. Hitler könnte mich von dort sehen.“ Als er elf Jahre alt war, nannte er Goebbels Onkel Josef, aß manchmal bei Hitler und war Führer der Marine HJ.

Thomas Harlan ist der Sohn von Veit Harlan, dem Regisseur des antisemitischen Hetzfilms „Jud Süss“. Er ist 77 Jahre alt, ein blendender Erzähler, ein tragischer Fall, der als Filmregisseur dem Schatten des Vaters nie entkam und den das ödipale Drama bis ans Grab verfolgen wird. Ein Held der Aufklärung, der in den 60er-Jahren Nazitäter jagte, die es in der Bundesrepublik zu Karrieren gebracht hatten. Ein linksradikaler Bohemien in Paris, ein funkelnder Erzähler, bei dem Talent, Größenfantasie und Absturz nahe beieinander lag.

In „Unser täglich Brot“ ist die Kamera der Erzähler – in „Wandersplitter“ ist sie nur ein Aufnahmegerät. Zwischentitel und Blicke aus dem Fenster sollen Harlans Wortgewitter strukturieren: notdürftige Leitplanken, um diesen Rede- und Assoziationsstrom einzurahmen. Die Regie schafft eine Bühne für einen Star. Mehr nicht. Aber das reicht.