Der alltägliche Schiffbruch

Teilnehmende Beobachtung und ästhetische Distanz: Das Kasseler Fridericianum präsentiert mit der Ausstellung „Something is rotten“ zeitgenössische dänische Kunst  ■ Von Harald Fricke

Im europäischen Staatenverbund gilt Dänemark als Inbegriff des bürgerlichen Liberalismus. Mit keinem anderen Land wird ein solcher Grad an Freizügigkeit assoziiert, nirgendwo sonst wird die Zufriedenheit mit den Errungenschaften des Sozialstaates so hoch angesetzt. Entsprechend spärlich fallen Vorstellungen zu dänischer Kultur aus: Wo die Gesellschaft sich von selbst emanzipiert, braucht es keine symbolischen Versprechungen.

Noch heute scheint dänische Kunst unter dem idyllischen Bild von der Wirklichkeit gewordenen Utopie zu leiden. Anders als in England, wo Tony Blair den Kulturexport der „young british art“ unter dem Banner von „cool britannia“ verbuchen darf, läßt sich in Dänemark mit Kunst kein Staat machen. Irgendwie wird die künstlerische Befreiung von allen Schichten sogleich akzeptiert und als Zeugnis eben jener Liberalität den landeseigenen Museen anheimgegeben – oder die Künstler entziehen ihre Arbeit von vornherein der Möglichkeit ästhetischer Provokation und siedeln sie im Alltag an. „Kulturelle Konflikte in der Praxis lösen, nicht mit Kunst“ heißt es dann als Motto der jungen Designergruppe Superflex, die für ein Dorf in Tansania eine Biogasanlage aus formschöner orange leuchtender Plastikfolie entworfen hat.

Was als Akt der Entwicklungshilfe sofort einleuchtet, muß in der Kasseler Ausstellung „Something is rotten“ mit zeitgenössischer Kunst aus Dänemark per Video- und Fotodokumentation erst ein wenig mühsam als künstlerisches Projekt deklariert werden. Die Übersicht wurde vom Humblebaek-Gründer Knud W. Jensen als Hommage an die documenta kuratiert und ist von René Block großzügig im Fridericianum arrangiert worden. Offenbar fällt es den insgesamt vierzehn KünstlerInnen und Kollektiven dennoch schwer, ihre Haltung zu beweisen: Wenn Pop dort ist, „wo die Kunst den Massen begegnet“, wie Ulla Agkjaer Jörgensen in einem Essay für den Katalog schreibt, dann sieht man in Kassel manchmal vor lauter Pop die Kunst nicht mehr.

Zumindest erscheint die Verbindung aus sozialem Engagement, Pragmatismus und individuellem Eigenbrödlertum, wie es die dänischen KünstlerInnen vorführen, als kaum noch entzerrbares Flottieren zwischen High and Low. Deshalb ist die von Olafur Eliasson am Eingang installierte Eisplatte zwar eine artifiziell gestaltete Weiterführung der Land-art. Andererseits ähnelt das Objekt einer Spielwiese im Freizeitpark – schon wegen der hübschen kleinen Spuren, die ein paar barfüßige Spaziergänger auf der Fläche hinterlassen haben. Bei Frans Jacobis „Rooms“ wiederum wird man mit minimalem Aufwand in Hollywood- Kitsch-Phantasien eingewoben. Dort genügt schon Frank Sinatras schmachtendes „Just the nearness of you“ vom Band und ein an die Wand genageltes Stück Spitze, um den kargen white cube sehr bedrückend mit Melancholie aufzuladen. Und wenn man den Saal betritt, in dem Anne Lislegaard ihr Videoarbeit „Nothing but space“ zeigt, zieht einem der psychedelische Spiegelungseffekt den Boden unter den Füßen weg.

Auch der 16-mm-Film, den Joachim Koester mit dem Amerikaner Matthew Buckingham über den weiterhin in Kopenhagen existierenden Freistaat Christiania gedreht hat, ist ein Beispiel für die Unentwirrbarkeit von teilnehmender Beobachtung und ästhetischer Distanz. Mal dreht sich nur eine LP auf dem Schallplattenspieler, mal verschwindet eine Frau mit dem Fahrrad auf einem überwucherten Trampelpfad, der noch aus einer Zeit stammt, als Christiania im 17. Jahrhundert ein Militärstützpunkt war.

Bei Jens Haaning wird die Fiktion vollends in Realität überführt. Sein „Faserstoff-Projekt“ sieht den Umbau einer in der Nähe des KZ Ravensbrück gelegenen, ehemaligen NS-Waffenfabrik – und späterem Sowjet-Militärdepot – zu einem internationalen Wohnkomplex für Teilzeitarbeiter vor. Dadurch soll auf dem historisch vorbelasteten Gelände ein Integrationsort für Ausländer aufgebaut werden. Weil das Konzept in Zusammenarbeit mit der Architektengruppe Vertex schon weit fortgeschritten ist, hängt in der Ausstellung eine Luftaufnahme mit eingezeichneten Gebäuden. Tatsächlich scheint Haaning mit seinem Projekt ein Stück Wirklichkeit in eine neue Wirklichkeit zu übertragen, wobei die künstlerische Intervention vor allem im Kenntlichmachen dieser Möglichkeit liegt.

Nicht immer gelingt die Abgleichung allgemeiner und privater Interessen. Ein Teil der Ausstellung ist explizit dem Scheitern gewidmet. Doch selbst im Verfehlen strahlen einige Arbeiten einen wunderbar versöhnenden Glanz aus. So macht sich Peter Land mit seinem Video „The Cellist“ in Slapstick-Manier über die steife und verklemmte Atmosphäre bei Klassikkonzerten lustig und tanzt später doch ganz hingebungsvoll mit seinem Instrument zur „Fantasie“ von Gaspar Cassado. Daß er schließlich splitternackt agiert, steigert den Klamauk zu einer feinen Volte in Sachen Therapie: Der dickliche Künstler stellt sich dem Betrachter als Projektionsfläche für ganz gewöhnliche Unzulänglichkeiten und Schwächen zur Verfügung, um sie federleicht in Ironie aufzulösen – vorausgesetzt, man identifiziert sich mit dem herumhopsenden Körper.

Ähnlich wie Land arbeitet sich auch das Künstlerduo rasmus knud am alltäglichen Schiffbruch ab. Mit der Fotoinstallation „Sweet and tender hooligan case“ dokumentieren sie eine Langzeitstudie, bei der die beiden in London als total entfesselte Fußballfans irrsinnige Aktionen am Spielfeldrand ausprobiert haben. Zunächst wurde die Trillerpfeife des Schiedsrichters in Gips eingegossen, danach der Ball mit einem knallgrünen vertauscht. Irgendwann wurden rasmus knud aus dem Stadion von Westham United verbannt, weil man die seltsamen Performancekünstler für echte Hooligans hielt. Aus Protest gegen den Rausschmiß kamen sie in der nächsten Woche mit einem Blasorchester wieder, schließlich geht es beim Fußball „um eine Kultur, die uns alle als Fans mit einschließt“. Die schlichte Botschaft von Zusammenhalt und Gruppenbewußtsein wirkt inmitten der absurden Happening-Eskapaden nur um so anrührender. Aber sie macht auch die Fallhöhe deutlich, mit der sich Kunst in Dänemark dem Leben annähert. Momentan ist sie ungeheuer niedrig.

Bis 13.–9. im Museum Fridericianum, Kassel. Katalog: 28 DM