■ Vorschlag: Verstrickt: Die Zirkustruppe Feria Musica aus Belgien im Tempodrom
Neun Menschen, allesamt in eher triste Anzüge mit Hut gesteckt, baumeln in der Luft auf einer kleinen Plattform wie auf einem Rettungsfloß. Unter ihnen nicht das wogende, weite Meer, sondern Sägemehl im Zirkusrund. Über ihnen nicht der unendliche Horizont und bedrohliche Wolken, sondern Zirkuskuppel und ein Netz aus Seilen und Tauen. Es raschelt, klackt und trommelt, Möwen schreien. Das Ambiente mit seinen irdenen Farben hat etwas Karges, Trostloses. Die Atmosphäre von Unheil und Apokalypse liegt in der Luft. Diese Menschen scheinen auf der Flucht. Eine Art Luzifer im schwarzen Herrenanzug, mit roter Fliege um den Hals gebunden, entfacht Feuer auf dem Boden, die Menschen fliegen auf das Netz, hinein in das Seilgestrüpp. Panik bricht aus. Es krabbelt, turnt, fällt, baumelt, klettert überall, bis ganz hinauf unters Dach.
Der belgischen Zirkustruppe Feria Musica um Phillipe de Coen und Dirk Opstaele eilt der Ruf eines atemberaubenden wie poetischen Spektakels voraus, eines Cirque nouveau im Geiste von Gosh und Cirque O. Ihnen gleich ist das Spiel der Gattungen, die Verschmelzung von Tanz, Theater, Musik, Artistik und Show. Eine Handlung gibt es nur rudimentär, die circensischen Höhepunkte sind eher bescheiden: Hochseilakrobatik (Schwingen, Klettern, Fallen, Stürzen) und wilde Pferde, auf die im Galopp rund ums Zirkusrund aufgesprungen wird.
Das hat durchaus Momente der Poesie und der Archaik. Aber eben dann doch nur Momente. Einmal geht die Reise im Netz und Strickgewirr rund um die Manege, über die Köpfen der sechs Pferde hinweg. Immer wieder lodern bedrohlich die Flammen auf und verlöschen wieder. Man legt sich mit den Tieren schlafen, man reitet mit ihnen, und sie toben wieder hinaus aus dem Zelt. Man mag viel in dieses wortlose Theaterspiel hineinphilosophieren und sich Gedanken über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier machen, über Freundschaft, Feindschaft, Kampf und Überleben. Aber es bleibt eine dürftige Dramaturgie für diese satte Stunde, der es an Spannung und Höhepunkten fehlt.
Der mal schwirrende, mal eher lärmende Jazzrock der sechsköpfigen Band (Komposition Benoit Louis) ist auf ähnliche Weise nur halb und eben nicht ganz das Wahre. In Brüssel soll das Publikum getobt haben, und der belgische Staat finanziert Feria Musica im nächsten Jahr einen festen Standort. Der Rezensent in Berlin zuckte etwas enttäuscht mit der Schulter und schaut nach dem Schlußapplaus zu, wie die Pferde aufgeregt ihr Premierengeschenk verputzen: einen schönen Bund langgewachsener Karotten. Axel Schock
Bis 27.9., Mi.–Sa. 20.30 Uhr, So. 16 Uhr, Tempodrom, In den Zelten
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