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Fest der Obdachlosen und Armen

Jedes Jahr veranstaltet die Heiligkreuzkirche in Kreuzberg ein Bankett für die Ausgegrenzten Berlins. Etwa 1.000 Gäste kamen zu Kartoffelsalat, Cola light und Begleitprogramm  ■ Von Vera Gaserow

Schon um ein Uhr mittags ist kein Platz mehr frei an den Tischen im Kirchenschiff, um kurz vor zwei ist der Kartoffelsalat ein erstes Mal zu Ende, so gegen vier hat Walter seine vierte Dose Cola light im Bauch, und um fünf muß Ellen mit Wölfchen mal kurz vor die Tür „Gassi“ gehen.

Wölfchen mit dem braunen Lederhalsband im Zottelfell ist als Gast an diesem Ort normalerweise nicht gelitten. Die zweibeinigen Gäste schon, aber ehrlich gesagt, es zieht sie nicht häufig in eine Kirche, auch wenn ein Mann wie Rudolf das Alte Testament in der abgeschabten Jackentasche trägt. Aber an diesem Tag kommen sie gern, das hat Tradition seit fünf Jahren, und später wird der Abgesandte des Bischofs die Gäste an den langen Tischen loben: So voll ist eine Kirche selten.

Über tausend Gäste, weit mehr als im Vorjahr, sind am Mittwoch nachmittag in die Kreuzberger Heiligkreuzkirche zum Fest der „Obdachlosen und Armen“ gekommen. In Suppenküchen und Wärmestuben hatten die 70 kirchlichen und sozialen Einrichtungen der Arbeitsgemeinschaft „Leben mit Obdachlosen“ eingeladen, und die Informationskanäle der Ausgegrenzten funktionieren bestens auch ganz ohne Fernsehen und Internet.

So sind sie gekommen zu Hähnchen mit Kartoffelsalat, heißem Kaffee mit Schnittchen und Weihnachtsliedern. Eine gemischte Gesellschaft, deren zuvorkommende Tischmanieren jeden Büffet-Empfang der Hauptstadt beschämen könnten. Reinhard aus Bayern ist da, „seit acht, na eigentlich seit zwölf Jahren“ ohne Wohnung, aber im neuen Jahr – „garantiert!“ – findet er auch eine Arbeit, „weil: wer arbeiten will, der findet, bloß die meisten wollen ja nicht“. Er aber, Reinhard aus Bayern, will und kann „praktisch alles“ und praktisch wird alles wahrscheinlich wieder nichts werden.

Ellen, der sie nach der Wende „übel mitgespielt haben“, ist mit Zottelhund Wölfchen gekommen; und Heinz mit der gebrochenen Hand – „fünf Leute haben mich zusammengeschlagen, alles Ausländer“ –, dem ist die Frau weggelaufen „mit einem Türken“, und seitdem geht es bergab. Frauen mit blaugeprügelten Augen wie geschminkt und Männer mit abenteuerlichen Tätowierungen sitzen an den Tischen neben silberhaarigen Herren mit steifen Hemdkragen und jungen Burschen, die zwanzig Jahre zu alt aussehen und über ihre Füße stolpern.

Nur die Punks fehlen an diesem Nachmittag, „die gehen lieber draußen betteln, als zu einer Almosenveranstaltung zu kommen“, meint Helga, die früher auch so gedacht hat, „einmal im Jahr, immer vor Weihnachten, machen sie überall Feste. Da wirste vollgestopft mit Essen, daß es dir reineweg den Magen auskippt, und danach ist wieder alles beim alten“. Trotzdem ist Helga gekommen und bleibt bis zum Schluß, „wegen der Gemütlichkeit“ und nicht wegen der warmen Socken und der Tabakpäckchen, die der Nikolaus am Ende verteilt.

Etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf hat fast jeder der rund 1.000 Feiernden in der Heiligkreuzkirche. Einige wohnen in „Läusepensionen“, einige wie Heinz in Wohnheimen mit „zehn andere auf dem Zimmer, aber o.k.“, viele haben auch eine Wohnung und tauschen sogar auf zusammengefaltetes Klopapier gekritzelte eigene Telefonnummern aus.

Und dennoch steht den allermeisten die Armut ins Gesicht geschrieben. Wenn die Gäste ein gemeinsames Erkennungszeichen finden müßten, dann wäre es die graue Hautfarbe und es wären die gelbverfärbten und fehlenden Zähne. Im Vergleich dazu sind die jungen, schick gekleideten Polen unter den Gästen von provozierender Gesundheit. Die Polen kann hier niemand richtig leiden, „treten nur in Rudeln auf und wissen genau, wo es was abzustauben gibt“. „Kriminell sind die, das Klauen saugen die schon mit der Muttermilch auf“.

Wenn es um die Polen geht, dann kommen sogar auch die ins Gespräch, die sonst den ganzen Nachmittag schweigend nebeneinander gesessen haben, denn das innere Erkennungszeichen der allermeisten hier ist die menschliche Isolation. Einige wenige sind in Cliquen gekommen, man grüßt sich, man stößt mit einer Büchse Cola an. Aber die meisten starren, jeder für sich, still vor sich hin. So wie Jürgen, der junge Mann mit dem feingeschnittenen Gesicht und dem gepflegten Pullover, der kein einziges Wort sagt an diesem Tag.

Jeder der Anwesenden schleppt eine zigfach gebrochene Lebensgeschichte mit sich herum und jeder ist sein eigener Philosoph. Das macht aus den Gästen keine große solidarische Schicksalsgemeinschaft, das macht eine Ansammlung von unendlicher Einsamkeit. Wie Reisende im Wartesaal sitzen viele da, nur daß kein Zug kommt. Die einzige Hoffnung ist, daß der Alltag sich wenigstens durch kleine Unterbrechungen zu so etwas wie Sinn strukturiert – wann gibt es Hähnchen, wann Kaffee, wann kommen die Schnittchen?

Aber irgendwann kommt auch „La Susanna“, die feurige Flamenco-Tänzerin unterm Altar hervor und einige Mutige trauen sich mitzutanzen und machen Susanna mit ungelenken Bewegungen den Hof. Später dann, als die schwarze Gospel-Sängerin „Oh When the Saints go Marching in“ anstimmt, vibriert die Kirche und rundum wird es plötzlich ein paar Grad wärmer. Selbst Jürgen, der Schweigsame, klatscht einmal in die Hände, bevor er wieder in sich versinkt. „Oh du Fröhliche“ haben sich die Gäste zum Abschluß vom Pfarrer gewünscht und „Kling Glöckchen, klingelingeling“. An den langen Tischen stimmen erwachsene Männer und Frauen mit ernsthaften Gesichtern ein „Öffne mir die Türen, laß mich nicht erfrieren“ an – und dann öffnet sich die Kirchentür, das Fest ist zu Ende, und in der abendlichen Dunkelheit zeigt das Thermometer minus neun Grad.

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