: Krass, noch krasser, Edith Cresson
■ Die französische EU-Kommissarin ist in Paris wie in Brüssel hart im Geben und im Nehmen
Die Kultur des politischen Rücktritts ist in Frankreich nicht sehr weit verbreitet. Doch nicht nur deshalb bleibt Edith Cresson im Amt. Die EU-Kommissarin für Wissenschaft, Forschung, Erziehung und Ausbildung sagt von sich, sie liebe die Herausforderungen, fürchte keine Gegner. Und die hat sie in Brüssel wie zu Hause in Paris.
Ihr wahres Zuhause ist die kleine französische Provinzstadt Chatelleraut, wo sie Bürgermeisterin war. „Hier ist das wahre Frankreich, hier zirkuliert das Blut der Nation, weit weg vom Parisianismus der feinen Leute“, erklärte die bald 65jährige zweifache Mutter einmal. Und mit feinen Leuten hat die Kommissarin nicht viel gemein, abgesehen von ihrer eleganten Kleidung. Ihre flotten Sprüche stammen eher von der Bistrotheke. Die Japaner bezeichnete sie einmal als „kleine gelbe Ameisen“, die Engländer hielt sie für überdurchschnittlich häufig homosexuell; den Deutschen empfahl sie, ihren Reinheitsfimmel nicht zu übertreiben, und der Holländer liebstes Nahrungs- und Exportmittel umschrieb sie als „Mäusekäse“.
Gewiß, all das gab sie von sich, bevor sie 1991 Premierministerin wurde. Doch nach ihrer Nominierung durch Präsident Mitterrand wurden die krassen Aussagen natürlich hervorgekramt. Cresson wurde selbst Opfer hämischer Attacken: „Madame Pompadour“ nannte man sie in Anspielung an ihre einst mehr als herzliche Beziehung zu François Mitterrand.
Nach elf Monaten als Regierungschefin trat sie wieder ab, als sie in den Meinungsumfragen gerade noch elf Prozent Sympathien erhielt – ein Negativrekord für Frankreich, genauso wie die Kürze ihrer Amtszeit.
Nach der üblichen politischen Durststrecke, gemildert durch eine hochdotierte Beratertätigkeit für den französischen Elektronikkonzern Schneider, wurde sie als Vertreterin Frankreichs EU-Kommissarin. Wieder vermuteten dahinter viele die Hand ihres Beschützers im Elysée-Palast, der ihr im fernen Brüssel einen Posten sicherte, weil sie im eigenen Land den politischen Kredit verspielt hatte. Übersehen wird dabei, daß sich die Doktorin der Handelswissenschaften in Paris ab 1981 in mehreren Ministerien – Landwirtschaft, Industrie, Außenhandel, Europa – mit Fachkompetenz und Entschlußkraft durchgesetzt hatte. Als Technikerin nimmt sie es mit den Kollegen allemal auf.
Politisches Fingerspitzengefühl geht ihr aber ab. Dazu gehört die Einsicht, daß Brüssel nicht Paris ist. Ein anderer Mitarbeiter Mitterrands, der frühere Elysée-Berater Jacques Attali, machte diese Erfahrung auch: Wegen allzu auffälliger Luxusausgaben für die Chefetage mußte er als Vorsteher der Osteuropabank in London abtreten – nicht weil französische, sondern weil britische Medien insistierten. Die Anstellung persönlicher Freunde mag in Paris Tradition haben, und wenn ein Politiker einmal dafür kritisiert wird, sieht er elegant darüber hinweg. Die EU- Kommissarin Cresson erteilte einem befreundeten Zahnarzt ohne jede Fachkompetenz den Auftrag, ein Gutachten zum Stand der Aids-Forschung zu erstellen. Eine Pariser Zeitung hatte die ersten Enthüllungen publiziert.
Die Kommissarin reagierte wie gehabt: Sie tat allzu direkte Fragen noch in dieser Woche mit einer Handbewegung ab. Stefan Brändle, Paris
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen