Der Umweg ist das Ziel

Die Ladehemmung als Urszene, das Verschwinden als Produktivkraft: Heute vor 10 Jahren starb der Intellektuellenfeind und geniale Weltbeschimpfer Thomas Bernhard  ■ Von Ulrich Rüger

Ingeborg Bachmann schrieb 1969 über Thomas Bernhard: „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue.“ Die Bachmann gehörte zu den wenigen Menschen, die von Bernhard wirklich bewundert wurden, oder sollte man besser sagen, die der Intellektuellenfeind und Frauenfeind und Katholikenfeind und Körperfeind und Kollegenfeind und Salzburgfeind und Österreichfeind und Politikfeind von seiner Feindschaft ausgenommen hat?

Seine Leser hat er keiner Feindschaft für würdig befunden. Sie sind ihm egal gewesen. Einer der Leser, die Bernhard akzeptieren mochte, weil sie seine Auffassung des Lebens als Strafanstalt geteilt haben, war André Müller, bekannt durch seine Zeit-Gespräche. In einem Interview, in dem ausnahmsweise Müller selbst der Befragte war, hat er über seine Unfähigkeit gesprochen, sich das Leben zu nehmen. Drei Wochen habe er in seiner Münchner Wohnung verbracht, und dann, als er eingesehen habe, es nicht zu können, sei er nach Nürnberg gefahren und habe seiner Freundin noch an der Schwelle gesagt: „Ich kann mir nicht das Leben nehmen.“ Worauf sie geantwortet hat: „Brauchst ja auch nicht.“

„Brauchst ja auch nicht!“ möchte man den Bernhardschen Figuren zurufen, die im Zimmer des Bewußtseins schwitzen bei dem Versuch, ein Geistesprodukt zu schaffen. Seine Helden scheitern, weil sie verliebt bleiben in ihre eingebildete Grandiosität. Angestachelt zum Werk durch Grandiositätsphantasien, müssen die Bernhardschen Figuren die Erfahrung aushalten, daß sie das erlösende Werk niemals zu Ende bringen werden, ja daß es niemals begonnen werden wird: „Am Ende hatte ich aber doch nur Skizzen in der Tasche, (...), und diese Skizzen vernichtete ich, weil sie mich auf einmal in meiner Schrift behinderten, anstatt mir nützlich zu sein, ich hatte zu viele Skizzen gemacht, dieses Übel hat mir schon viele Arbeiten verdorben; wir müssen Skizzen zu einer Arbeit machen, aber wenn wir zuviel Skizzen machen, verderben wir alles, dachte ich.“

Bernhards Urszene ist die Ladehemmung. Es ist alles da, es will raus, aber es kommt nichts. Die magische, wunderbare Welt im Kopf ist dazu verurteilt, sich an der Luft in nichts aufzulösen, als ob sie nie gewesen wäre. Am Anfang steht der Zettel, und am Ende steht der Zettel, und dazwischen häufen sich Berge von Zetteln. Die Zettel werden früher oder später vernichtet. Sie sind wertlos, wie die Gedanken wertlos sind, die Verrichtungen wertlos, das Gehen, das Reisen. Linderung schafft allenfalls die tiradenhafte Beschimpfung der Welt im allgemeinen und Österreichs im besonderen.

Bernhard ist der Erfinder der literarischen Litanei. Sprache erlangt ihre Unschuld als endlose Wiederholung zurück. In der Wiederholung werden der Sprache ihre Versuchungen ausgetrieben: die Versuchung, Realität zu verunstalten durch sogenannte Beschreibung; die Versuchung, Mitteilungen vorzutäuschen durch sogenannte Kommunikation; und die schlimmste Versuchung, Sinn zu erzeugen durch das Erfinden von Plausibilitäten. In der Befreiung der Sprache aus dem Korsett erzählerischen Sinns entdeckt sie ihren musikalischen Grund. Was die Sprache mitteilt, ist der Drang, sich mitzuteilen. Dieser Drang hat einen Rhythmus und einen Blues, er hat Höhe- und Kontrapunkte und einen Sog, der in seinen unbeirrbaren Wiederholungen nervtötend intensiv und unwiderstehlich ist. Die Sprache als Klangkörper hat es Bernhard erlaubt, immun zu bleiben gegen die intellektuelle Krankheit, die ihr Heil darin sucht, in den scheinbaren Eroberungen eines anonymen Denkens unterzutauchen. Er hat das Leiden an dem Wahnsinn, ein Geistesprodukt erzeugen zu wollen, studiert. Seine Studien haben denen, die von diesem Leiden befallen sind, das Glück geschenkt, über das Scheitern daran lachen zu können.

Er ist nicht gescheitert. Die Versuchung, eine Studie über was auch immer zu schreiben, ist ihm die fernste gewesen. Die von ihm beschworenen Heiligen des Geistes, lebenslang dieselben, schon vom Großvater übernommen, Pascal, Voltaire, Montaigne, müssen sich damit begnügen, beschworen zu werden. Ihre Schriften haben den Charakter von Fetischen. Sie existieren nicht als Texte, mit denen die Auseinandersetzung lohnen würde, sondern als geistige Gegenstände. Für Bernhards Figuren kommt es vor allem darauf an, diese Schriften überall dabeizuhaben. Der Charakter der Schrift als geistiger Gegenstand bewahrt ihren Träger vor der erbarmungswürdigen Lächerlichkeit der Alltäglichkeit. Der geistige Gegenstand wird nicht gelesen, dazu ist er eigentlich zu schade, er wird bewahrt: „Manchmal nimmt er seinen Pascal mit, schlägt eine Seite auf und sagt ,das ist ein großer Gedanke‘, tut, als lese er einen Abschnitt, schaut mich an und steckt dann das Buch wieder in die Tasche. Blaise Pascal, geboren 1623, der Größte.“

Freunde versichern, sie hätten Thomas Bernhard niemals ein Buch lesen sehen. Im Vierkanthof in Ohlsdorf war Platz nur für die eigenen Werke, die aber in siebenfacher Ausführung nach Farben geordnet. Was in der Lächerlichkeit und Erbarmungswürdigkeit bleibt, ist das eigene Werk. Die bedingungslose Leidenschaft für das Werk ist die Haltung einer Generation ausgestorbener und aussterbender Künstler. Thomas Bernhard hat der Fixierung auf das Kunstwerk als Geistesprodukt eine Verfalls- und Krankheitsgeschichte geschrieben. Die Pathologie des Schaffens, die dabei entsteht, greift unserer Zeit voraus, in der, wie es bei Peter Bürger heißt, die Qualität eines Künstlers nicht mehr abhängt von der raumgreifenden Gestalt seines Werkes, sondern von der Intensität, mit der er sein eigenes Verschwinden denkt.