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Kunst und Zuckerwatte

Pop mit Pauken und Trompeten: Wilco beweisen, daß das Jahrzehnte nach den Beach Boys doch noch geht. Ihr Album „Summer Teeth“ ist ein Meisterwerk im Geiste gesunden Größenwahns. Du hast keine Chance, etwas wirklich Neues zu machen, aber nutze sie!  ■ Von Jörg Feyer

Es ist rührend zu beobachten, wie sich Jeff Tweedy – mal mit polternder Selbstironie, dann mit flugs zurückgepaßtem Frage-Ball – lange Zeit windet, um nur ja nichts allzu Bedeutungsschweres über die Musik seiner Band Wilco zu sagen. Niemand fällt heute mehr gern mit der Tür ins Haus, von „Botschaften“ ganz zu schweigen. Außerdem: „Music is not about knowing, it's about hearing“ (Tweedy). Manchmal freilich möchte man schon gern wissen, wie etwas zustande kam. Vor allem, wenn es sich so toll anhört wie das neue, dritte Wilco-Album „Summer Teeth“.

Tweedys Geziertheit ist gewiß auch historisch begründet, genauer: in seiner eigenen Biographie. Schließlich wurde der 32jährige, in Chicago ansässige Familienvater aus Belleville, Illinois, schon einmal unfreiwillig zur Galionsfigur emporgehievt. „No Depression“ hieß 1990 das Debütalbum seiner alten Band Uncle Tupelo, das später nicht nur einem einflußreichen US-Fanzine den Namen gab, sondern auch gleich einer ganzen Szene junger US-Musiker.

Die war – jenseits der ausgelutschten Ausdrucksformen Rock (und später Grunge) – mal wieder auf der Suche nach dem „anderen“, besseren Amerika. Und (wieder-)entdeckte dabei die Hillbilly-Gesänge der Berge, die Sounds der Sümpfe, nicht zuletzt existentiellen Dramen des Southern Gothic. Harry Smith und seine unlängst wiederaufgelegte „Anthology Of American Folk Music“ ließen schön grüßen.

„Americana!“ rief die Branche, weil es natürlich galt, den vermeintlichen Trend mit einer neuen Chart-Kategorie verwertbar zu machen.

Rückblickend sagt Tweedy, er habe sich als vermeintlicher Pionier „zumindest falsch dargestellt“ gesehen, ja das Gefühl gehabt, „sogar lügen zu müssen, um das akzeptieren zu können. Die Leute, die dich aufs Podest stellen, wollen ja nicht hören, daß du selbst die Sache anders siehst.“ Nämlich nicht so romantisierend. Von wegen: die Songs vom bergarbeitenden Opa gelernt und so. Tweedy: „Wir haben die alten Songs in der Bibliothek gefunden. Haben sie auf Platten gekauft.“

Noch bevor die Affäre auf dem Höhepunkt anlangen konnte, warf der verschlossene Band-Kompagnon Jay Farrar Tweedy die Brocken hin. Der blieb nicht so lange geschockt wie viele seiner trauernden Bewunderer und gründete mit den verbliebenen Musikern Wilco, während Jay Farrar mit Son Volt weitermachte. Letztere verdichteten auf inzwischen ebenfalls drei Alben ihren Sound immer stärker hin zum dunklen Herzen Amerikas, Tweedy ließ es nach vielen Seiten hin ausfransen. Auf „Being There“, dem zweiten Wilco-Album von 1996, schien das Neue schon verschwommen am Horizont auf: Bei Stones und Kinks entlehnte Trad-Riffs standen etwas unvermittelt neben enigmatischen Epen aus dem Paralleluniversum des Brian (Wilson).

Erst jetzt kann sich der Nebel vollends lichten. „What you wanted isn't what you want anymore“, verkündet Tweedy immer wieder aufgekratzt im Song „Shot In The Arm“. Roots-Rock-Puristen, die allein akustisches Instrumentarium als „authentisch“ erachten und Elektronika nur in der Variante elektrisch verstärkter Gitarren goutieren, werden an den 15 Songs von „Summer Teeth“ hart zu knabbern haben. Denn Geburtshelfer Tweedy hält jetzt gutgelaunt auch die Grabrede auf „Americana“ etc. pp. Dies ist Pop mit Pauken und Trompeten (auch im Wortsinn). Pop, Lichtjahre entfernt von dem, was heute sonst unter diesem Begriff gehandelt wird. Pop mit Hang zum Größenwahn: sicher ambitioniert, manchmal überkandidelt. Aber nie clever um der Cleverness willen.

Über 16 Monate waren Wilco in sieben verschiedenen Studios zugange. Nicht am Stück, versteht sich, denn zwischendurch wandelten Tweedy und seine Mitstreiter Jay Bennett, Ken Coomer und John Stirratt ja auch noch mit Billy Bragg auf Woody Guthries „Mermaid Avenue“ – „Wir konnten uns den Luxus erlauben, mit einer Kultur-Ikone herumzuficken“, resümiert Tweedy lachend das Intermezzo auf den Spuren Guthries, dessen liegengebliebene Texte sie vertonten. „Die Herausforderung war: den Erwartungen zu widerstehen, die sich bei diesem Namen sofort einstellen. Sich keine Sorgen darüber zu machen, daß man die Leute vor den Kopf stoßen könnte. Aber sie auch nicht bewußt nur vor den Kopf zu stoßen. Da lag ja auch die Versuchung. Kontroversen bleiben da nie aus, aber Woody selbst war ja eine kontroverse Figur. Was nur Folk-Puristen nie wahrhaben wollten.“

Daß „Summer Teeth“ über Zeit und Raum eher gewonnen als (sich) verloren hat, spricht für die Arrangier- und Editierkünste, auch für den unbedingten Stilwillen einer Band, die zunächst auch mit Drum-Computern experimentierte, um „alles niederzureißen und quasi noch mal von vorn anzufangen“ (Tweedy). Schon die Credits deuten den neuen Kurs an: Erstmals tritt Jeff Tweedy nicht als Alleinunterhalter, sprich: Solo- Songwriter, auf. „Written, Produced And Performed by Wilco“, vermerkt das Booklet. Die hübsche Ironie ist, daß sich Tweedy gerade im frischgewonnenen Kollektivgeist endgültig als großer Pop- Auteur der 90er etablieren kann.

Nach dem symptomatischen Ausscheiden des Dobro- und Fiddle-Experten Max Johnston gewinnt aber auch Jay Bennett an Profil, der als Multiinstrumentalist mit zuweilen geradezu perfider Lust zumal allerlei Keyboards und Synthesizer durch die Manege zieht.

Ja, der Zirkus ist in der Stadt, und seine zweite Hauptattraktion sind Stimmen (die auch noch wundervolle Melodien singen). Tweedys Stimme natürlich, die etwas dünn, aber sehr effektiv zwischen Lakonie und Emphase changiert; vor allem aber viele, viele Background-Stimmen und Harmonies. Natürlich winken da die Beach Boys vom Surfbrett (bzw. aus der Entziehungskur). Aber die Vocal- Arrangements von Wilco – verschiedenste Wendungen auf zig Spuren – erschöpfen sich nicht in purer Reproduktion.

Synthetische Streicher schwelgen, eine Mundharmonika spielt das Lied von den Wunden, die bleiben werden. So bestimmt das elegische „She's A Jar“ den Tenor des Albums – beileibe nicht die einzige Beziehungsdissonanz, die Tweedy schonungslos offenlegt, der bis auf das verschwurbelte Wiegenlied „My Darling“ (Bennett) sämtliche Texte verfaßt und es ohnehin besser hat. Denn: „When I forget how to talk I sing.“ Wenn Tweedy nicht singt, träumt er. „I dreamed about killing you again last night“, heißt es als Einstieg zur grandiosen, eine weite Kurve fliegenden Heimkehrerode „Via Chicago“. Dann schiebt er hinterher. „And it felt alright to me.“

Verstörende Momente zwischen Traum und Wirklichkeit geraten ins Visier, die sich eben nicht mehr so alright anfühlen. „How To Fight Loneliness?“ Tweedy empfiehlt „Just smile all the time.“ Und klingt todtraurig dabei (weil das ja nicht geht). Selbst das unverschämt eingängige „Nothin's Ever Gonna Stand In My Way (Again)“ klingt fast wie ein Akt der Selbsthypnose.

In der fabulösen „Pieholden Suite“ hat sich unterdessen ein Verrat eingenistet, der selbst die schönsten Erinnerungen an hingebungsvolle Küsse zu ersticken droht. Plötzlich steht ein Banjo in der Tür (das freilich schon die ganze Zeit da war), schlendern lässig ein paar Bläser vorbei. Jedem Teil „das eigene Gesicht“ (Tweedy), jedem Instrument die Möglichkeit „Charakteristisches zu sagen“ – aber alles Teil einer Dramaturgie. „Summer Teeth“ lebt von magischen Momenten wie diesem, verliert aber nie den großen Trip in Cinemascope aus den Augen. Jeder Song sich selbst genug. Und doch nur „der nächste Akkord“ (Tweedy) auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk „Album“.

Apropos: Irgendwann, eine gute halbe Stunde ist vergangen, ringt sich Jeff Tweedy doch noch ein Statement ab. In einem für seine Verhältnisse fast schon ewig dauernden Monolog (also gut eine Minute) beklagt er aktuelle Bands, die „ihre musikalischen Erwartungen und Ambitionen so niedrig hängen. Weil alle sagen: Rock 'n' Roll ist tot! Pop ist beliebig! Die Meisterwerke sind alle schon gemacht. Du hast keine Chance mehr.“ Es sei, so Tweedy, einem „ja fast schon peinlich“, wenn man sage, man begreife Rock und Pop auch als Kunstform. Und schließlich formuliert Jeff Tweedy die für ihn entscheidende Frage. Nämlich: „Was soll der Spaß an einer Pop- Platte sein, wenn man nicht zumindest vorgibt, was Großartiges auf die Beine gestellt zu haben? Dieses Gefühl, nichts Großes mehr machen zu können, das wird dir heute schon von klein auf eingeimpft. Und die Künste reflektieren diese Resignation nur: Das gibt's schon. Das hat schon jemand gemacht. Du kannst nichts Neues hinzufügen.“ Dabei sei es doch schon viel, „etwas beizusteuern zu dem, was schon da ist und immer da sein wird“.

Halb erschrocken, halb belustigt hält Tweedy inne. „I'm sorry“, sagt er zu Jay Bennett, der neben ihm sitzt und Strichmännchen malt. Noch später überlegt er, ob er sich „nicht vor einer Minute völlig verrückt“ angehört habe. Und wenn schon: Entschuldigen muß sich Jeff Tweedy für nichts. „Summer Teeth“ läßt der Resignation letztlich keine Chance. Nach dem locker ausgesessenen Spätherbst („Waking Up/Feeling Old“) wird es sogar noch mal Sommer! Zuckerwatte wird verteilt, Vögel zwitschern, eine Spieluhr leiert irgendwie vertraute Melodien, ein paar Strandjungen blecken perlweiße Zähne. Die Zukunft? Kommt ja so oder so.

„Americana“ mag nur noch ein Torso sein. Wilco indes sind lebendiger denn je. Darauf hoffen, daß sie „Summer Teeth“ auch live reproduzieren können, sollte man aber wohl besser nicht.

Einziger Deutschland-Gig: 25.3., Hamburg, Grünspan

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