: FAZ-Mag: Wesselwelt
(54) Dr. Harald Wessel strich durch die Redaktionsräume der jungen Welt. Der gelernte DDR-Bürger war nervös. Trotz aller Routine im Zusammenscheißen von Untergebenen, die er beim Neuen Deutschland erworben hatte, beschlich den Zwangspensionär ein ungutes Gefühl. Wie würde die Redaktion seinen Vortrag „Deutschland ist der Mittelpunkt der Deutschen“ aufnehmen? Die ersten Zuhörer wurden in den Raum getrieben, an Händen und Füßen gefesselt. „Gott sei Dank“, dachte Wessel. „Kein Risiko. Und keine Ausländer. Genau wie früher.“ Einige Redakteure wollten sich dem Vortrag durch Freitod entziehen und sprangen aus dem Fenster. Vergeblich: Die Redaktionsräume waren aus gutem Grund im Parterre angemietet worden. Die Deserteure wurden eingefangen und von Wessel persönlich abgestraft. „An Feiglingen wie euch ist Deutschland zerbrochen!“, schnarrte er. Als die Redaktion vollzählig angetreten war, wurden den Gefangenen die Handfesseln gelöst – zum Applaudieren. Wessel begann mit dem Absingen der Hymne: „Auferstanden aus Ruinen ...“ Er schloss die Augen und sang wie ein quietschendes Damenfahrrad. Die Frau des Chefredakteurs sang begeistert mit. Rüde wurden sie unterbrochen. „Sie sehen ungewaschen aus! Sie haben sich heute noch nicht gewaschen!“, rief einer der Gefangenen. Wessel kochte vor Wut. Woher wusste der das? Wer hatte da nicht dichtgehalten? Drohend sah er sich im Raum um: Jeder hätte ein Verräter sein können, jeder außer ihm und den Heiopeis, die sowieso schrieben, was er wollte ...
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