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Helmbrechts Herzchen

An den Kammerspielen des Deutschen Theaters mutiert ein halbnackter Germane zum Rechtsradikalen: „Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte“  ■   Von Eva Behrendt

Aus Kitsch wird Superkitsch. Das größte Gefühl entsteht wohl dann, wenn man versucht, sein Gegenteil zu produzieren

Die Zukunft hat noch nicht angefangen. Selten war man sich dessen so bewusst wie in der Berliner Theaterspielzeit 1999/2000, die so unschön noch ins alte Jahrtausend lappt. Während Claus Peymann höchstpersönlich das Berliner Ensemble renoviert und die kollektive Jung-Intendanz der Schaubühne den Saisonstart auf Ende Januar hinausgeschoben hat, teilen sich Volksbühne und Deutsches Theater die undankbare Aufgabe, das letzte Stück Vergangenheit zu bespielen, die letzte Premiere, den letzten Lappen vor 2000 sozusagen. Dabei ist auch an den Kammerspielen des Deutschen Theaters – ab sofort kurz und zärtlich „die Kammer“ genannt – die Zukunft in Gestalt einer neuen und jungen Intendanz angetreten, die nach der Schließung der Baracke nun das jüngere, womöglich abwanderungsgefährdete DT-Publikum binden soll. Dazu haben sich der Regisseur Stefan Otteni und der Autor Martin Baucks vorgenommen, die Kammerspiele „von innen heraus zu erneuern“, indem Tradition und zeitgenössische Mittel auf die sanfte Tour verknüpft werden. Man will ein bisschen außerhalb der Konkurrenz spielen – und zwar Vollbluttheater, sich weder an den „Neuen Realismus“ à la Ostermeier andocken noch im Windschatten gediegener Bürgerlichkeit werkeln. Nur der Umbau der Kammer zur multifunktionalen, Schauspieler und Publikum gleichberechtigenden Bühne steht noch aus. „Ich glaube, dass der Mensch total rückständig ist“, bekennt Otteni und meint damit das Unbehagen des imperfekten Menschen in einer sich perfektionistisch gerierenden Welt der glatten kühlen Oberflächen. Herausfordernd nahe liegt da das „heimliche Motto“ des Spielplans: „Wir wollen Menschen zeigen, die über sich selbst hinausgehen.“ Ein vorläufiges Ergebnis der Dialektik von Rückständigkeitsthese und Selbstüberschreitung zeigt nun Ottenis erste „Kammer“-Inszenierung von Moritz Rinkes „Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte“.

Das Stück mit dem rückständelnden Titel erzählt ein selbstbezügliches Theatermärchen, unter dessen gefälliger Oberfläche Sprengstoff lagert. Oder immer noch lagern könnte, denn die darin brodelnden ironischen Affekte gegen bornierte Bühnenherrlichkeit sind fast genauso alt wie der zentrale Konflikt um echte Gefühle und Identitäten, die mit künstlichen, kopierten konkurrieren.

Der Germane Helmbrecht platzt in eine Probebühne. Dieses idyllische Inselchen, ausgestattet mit der ganzen wunderbaren Illusionsmaschinerie des 19. Jahrhunderts, gekühltem Champagner und Kaffeemaschine, liegt in einem von rätselhaften Revolutionen umkämpften Berlin. Dort leitet Regieassistent Felix (Guntram Brattia), ein agiler Kunstbohemien mit keckem Kapuzenhemd, die Wiederaufnahme von „Romeo und Julia“. Statt der Schauspieler erscheint jedoch der halbnackte Helmbrecht (Hubertus Hartmann) – unschuldiges Kind einer anderen, längst vergangenen Zeit, unzivilisierter Parzifal auf der hemmungslosen Suche nach dem großen Glück, und eben jener Esoteriker, der noch keiner Frau Blöße entdeckte. Also der denkbar deftigste Gegenentwurf zu Felix, der sich selbst ebenso inszenieren will wie auf dem Theater „Menschheitsmomente“.

Ein Erziehungsprozess beginnt: Felix zeigt Helmbrecht, wie man einen Fön benutzt, und wird infolgedessen vom Germanen schamlos kopiert; die exzentrische Julia-Darstellerin Anna (Nina Hoss) entdeckt im ernsten Kinderspiel mit Helmbrecht verschüttete Liebessehnsüchte, woraufhin wiederum Felix erkennt, dass er, um Anna zu gefallen, nicht entweder stark oder weich, sondern „mittelweich“ und „mit Au-then-ti-zi-tät“ sein Cocktailglas zum Mund führen muss.

Rinkes Idee, ausgerechnet einen Germanen auf die Bühne plumpsen zu lassen, provoziert zudem eine ambivalente Politisierung. Helmbrecht darf nämlich nicht nur der blonde Wilde sein, sondern rollt gelegentlich semi-rechtsradikal ein „fürrrchterliches“ r. Später, schon erfolgreich von sich selbst entfremdet und so natürlich wie unsterblich in Anna verliebt, erschießt er Menschen und raubt seine Angebetete. Welches – wenn nicht ein krude verkürztes – Konzept von Radikalisierung hinter dieser Entwicklung steckt, vernebelt Ottenis Inszenierung kunstvoll. Abgesehen von Lichtspielereien, bei denen der Zuschauerraum zeitweise hell beleuchtet und der Guckkasteneffekt aufgehoben wird, bleibt die Regie im Umgang mit „zeitgenössischen Mitteln“ erschreckend mutlos, zieht sich das Probebühnenstück getreu einer Theaterprobe in die Länge und erst gegen Ende wieder zusammen, als die Bühne Kriegsschauplatz wird. Warum, ist ja egal – es geht schließlich um Menschheitsmomente. Tatsächlich liegt die schönste Szene schon zwei Stunden zurück: als nämlich Anna und Helmbrecht aus der Balkonszenen-Probe in pure Albernheit fallen und sich, von der Drehbühne im Kreis gewirbelt, ekstatisch mit Plastikblumen, Kissen und Schokoladentafeln bewerfen. Aus Kitsch wird beglückender Superkitsch. Das große Gefühl entsteht offenbar dann, wenn man so tut, als wolle man sein Gegenteil produzieren, wenn man begreift, dass das größte Gefühl eben die Sehnsucht danach ist.

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