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Verliebt auf Alka Seltzer

■ Zwischen Rave und Nirvana: Der schwedische Film „Raus aus Åmål“ macht das Coming-out zum Glücksfall in der Provinz

Lesbisch? Muss man da ins Krankenhaus? Es war eine dieser nächtlichen Berlinale-Panorama-Pressekonferenzen, in die man trottet, ohne noch allzu viel Spaß zu erwarten. Den sollte man aber haben, direkt nach der Vorführung von „Raus aus Åmål“. Dieser „kleine“ Film über schwedische Teenies entlässt einen in der Laune, Mülltonnen umzukicken, Klingelanlagen mit Chinaböllern zu sprengen oder – wie die Kids im Film es tun, wenn sie noch besser drauf kommen wollen: Alka Seltzer einzuwerfen, um high zu werden. Keine gute Ausgangsbasis für bräsige Journalistenfragen jedenfalls. An den beiden Hauptdarstellerinen Alexandra Dahlström (Elin) und Rebecca Liljeberg (Agnes) und ihrem Regisseur Lukas Moodysson prallten jedenfalls die langweiligsten Fragen zum Lesbenleben ab wie Fußbälle von Häuserwänden.

Moodysson, der auch das Buch zu seinem Spielfilmdebüt selbst verfasste, gab zu, dass er zunächst gar keine lesbische Liebesgeschichte erzählen wollte. „Das hat sich beim Drehen ergeben, als wir merkten, dass diese Konstellation am ehesten in unser Konzept passen würde.“ Da war sie schon, die gewisse Enttäuschung im Interconti-Konferenzraum.

Damals, im Februar 99, hatte der Film in Schweden schon so viel Erfolg, dass er mit 850.000 Zuschauern mit „Titanic“ gleichziehen konnte. Dabei ist die Story einer Gruppe von adoleszenten SchülerInnen sicher nicht nur für Skandinavien interessant. Obwohl – gibt's woanders als im Ex-Traum des Sozial- und Sozialdemokratenstaats Schweden mit seinen albernen Alkohol-Apotheken, Wickelräumen in jedem Klo und so viel Sozialarbeitern wie Einwohnern so grausig pseudoliberale Eltern wie die von Agnes? Mütter, die dem kleinen Bruder erklären, wie unheimlich o. k. es ist, homosexuell zu sein – die dann aber zur familiären Sicherheit doch das Computer-Tagebuch der Tochter checken.

Die Kids in der Provinzstadt Åmål haben's nicht leicht: Wenn ihnen die Eltern erlaubt haben, zum „Rave“ zu gehen, lesen sie in der In-Presse, dass Raves längst „out“ sind. In Stockholm müsste man leben oder wenigstens einen Freund in Bengtsfors haben. Nach Stockholm wollen Elin und Agnes per Anhalter in eine andere Jugend-Galaxis flüchten. Als tatsächlich ein Auto stoppt, wird die forsche Elin zurückhaltend, die introvertierte Agnes abenteuerlustig, und plötzlich funkt's auf dem Rücksitz: der erste, nicht gelogene Kuss. Der spießige Autofahrer sieht die glücklichen Mädchen – und schmeißt sie raus. Freiheit, Alkohol und Hipness mögen in fernen Metropolen zu Hause sein – Elin, Agnes und ihre Mitschüler müssen im verfickten Åmål weitersuchen.

Die LaiendarstellerInnen pubertieren dermaßen authentisch in ihrem Kaff herum, dass man sie sich auch als Larry Clarks „Kids“ denken könnte. Moodysson hat keinerlei Dogma-Ambitionen, keine nervösen Handkameras drängen uns MTV-Bilder auf. Stattdessen lange Einstellungen von öden Jugendzimmern mit Nirvana- und Scream-Plakaten.

Skandinavien war traditionell Heimat des Jugendfilms. „Raus aus Åmål“ dürfte die Titanic-Teens ansprechen, weil hier endlich mal ein Erwachsener einen Film nicht über Kinder gemacht hat. Moodysson: „Mit 14 will man noch keine Filme drehen. Aber wenn man einmal 14 war und etwas zu erzählen hat, sollte man nicht zu lange damit warten.“ Der Mann ist John-Cassavetes-Fan, und er bringt es fertig, eine Rollstuhlfahrerin als Mensch und nicht als hilfsbedürftiges Objekt zu zeigen: Das Mädchen ist die dümmste Kuh der Schule. Um es mal direkt und vierzehnjährig zu sagen: supergeiler Film. Andreas Becker ‚/B‘„Raus aus Åmål“. Regie: Lukas Moodysson. Mit: Alexandra Dahlström, Rebecca Liljeberg u. a., S/Dk 1999, 89 Min.

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