: Europas Metaschuld
■ Auszug aus dem Wettbewerbsbeitrag von Christophe Wall-Romana, geboren in Paris. Heute lebt er in Richmond, USA. Der Autor ist einer der beiden dritten Preisträger des Essaywettbewerbs in Weimar
„Mensch ohne Menschen,
o Nzouka! Das bin ich, ich,
Lamadani, Der ich ein Mensch
ohne Menschen bin, ich selbst.“
Lamadani („Nzouka. Satires de Lamadani“. Hrsg. von Eric de Dampiere, Paris: Armand Collin 1987, 75 (Reihe Classiques africains)
Das chronisch verschuldete Europa: Ich heiße Europa, und ich bin kolonienabhängig, ich brauche Kolonien wie den Alkohol, ich bin Alkolonialiker (je suis alcoloniale). Danach würde es nicht darum gehen, Europa zu heilen, indem man es wiederherstellt – selbst nicht auf imaginäre Weise, indem man es in Form einer magischen Nation mit Einheitswährung „wiedererfindet“ –, sondern darum, dafür zu sorgen, dass es sich gegenüber dem unauflöslichen Band seiner Phylogenese, also seiner Onto-ethik, solidarisch, d. h. als Gesamtschuldner verhält. Das ist es dem Nicht-Europa schuldig. Gewiss, eine exorbitante und unbezahlbare Schuld, doch es ist heute höchst solvent. Es zahlt wenig.
Schlimmer noch, der Raubzug geht weiter. Eine Frage der Jugend und der Geburten, die zu fehlen beginnen. Europa und sein goldenes Dreieck: der neue materialistische Zentrismus, der Outsourcing betreibt und die Arbeitslosigkeit steigert; die Ursache für den Extremismus seiner Inländer, die sich von der Entlassung bedroht fühlen; doppelte Ursache dafür, dass sich seine neue Kleptomanie – sich immigrierende Jugend zu klauen – als Toleranz verkleidet.
Und dann gibt es da noch die Welt. Ist es nicht langsam an der Zeit, dass sich Europa über seine strikten Bedürfnisse nach stabilen Märkten hinaus um sie sorgt? Der Rest der Welt, die ganze wirklich feine, d. h. schöne Welt (bien du beau monde), die einem nicht egal sein darf, viele Menschen (beaucoup de monde), die niemanden auf der Welt haben. [...]
Doch handelt es sich wirklich um eine Schuld? Schlicht und einfach um eine große Schuld? Eher um eine Metaschuld, da man von ihr trotz der „eingegangenen Bindungen“ (lien contractés) – die man sich wie ein Laster angewöhnt (contractés) hat – nicht einfach in der Begrifflichkeit des Vertrags sprechen kann. Denn für die Geschichte gibt es kein vertraglich geregeltes Gesetz (loi contractuelle). Ein alter Schwindel der Rechtsprechung.
Die ganze Kunst der industriellen – und heute juridischen – Moral Europas bestand – und besteht – darin, das statutarische Band, das die Metaverschuldung schafft, schlicht und einfach dadurch zu sprengen, dass sie der Gläubigerpartei ein für alle Mal jeglichen Status als Partei abspricht. Eine Einseitigkeit, die die Gerechtigkeit annulliert, da es der ehemals ganz offiziell rassistischen Episteme erlaubt wird, sich den Genuss der Apanage aus dem Raub genehmigt zu haben; eine Einseitigkeit, die die Gerechtigkeit annulliert, da es der nachfolgenden, der Episteme des Sohnes (épistème-fils) erlaubt wird, von der Einseitigkeit ihres Vaters zu profitieren, indem sich diese in seine eigene „Vergangenheit“ geflüchtet (enfui), ja in sie vergraben (enfoui) hat. Wer aber legt für die Geschichte des Rassismus fest, dass sie nicht vor Gericht zu erscheinen braucht?
Dieses Konzept des Nichterscheinens vor Gericht (contumax zéro), auf das sich das Post-Sklavenhalter-Europa so klar und lauthals beruft, macht es möglich, dass der Sklaverei heute keine rückwirkende vertragliche Grundlage auferlegt wird, da ja diese Episteme zum Beispiel den Afrikanern jeglichen Status einer moralischen Person abgesprochen hat. Es ist also dieselbe rassistische Episteme, die weiterhin dafür sorgt, dass der Vorschlag einer Antwort, einer Verantwortung, einer Wiederherstellung des Status, einer Restitution, einer Reparation gar nicht erst zur Sprache kommt. Ein Vertrag, sagt der frühere Rassismus unter seiner heutigen Maske, war unvorstellbar und muss es also bleiben: Auf der anderen Seite gab es niemanden, also gibt es weiterhin niemanden.
[Im Orig. „Il n'y avait personne“, eine Wendung, die man unter Bezugnahme auf den weiter oben ausgeführten philosophisch-ethischen Begriff der Person, „personne“, hier etwas frei auch als „auf der anderen Seite gab es keine Person“ lesen kann (A. d. Ü.]
In einem anderen Zeitalter würde das Primat der Vernunft an diesem Punkt meiner Ausführungen für ein langes, überzeugendes Plädoyer sorgen über die ethische, geistige, transzendentale, praktische, ökonomische Notwendigkeit, die immanente Gerechtigkeit, die, was weiß ich, Europa zwingen würde, folgenden Prozess zu initiieren: den sofortigen und vollständigen Erlass aller Schulden der ehemaligen Kolonien.
Dies drängt sich allerdings ohnehin auf. Es wird stattfinden müssen. Auch ohne jedes Plädoyer.
Die einzige historische Geste, die einen Sinn hätte. Die einzige Position an der Schwelle zum neuen Jahrtausend unter den neuen Bedingungen einer ein(zig)en und unteilbaren, ein(zig)en und unverjährbaren bzw. unantastbaren Menschheit und Menschlichkeit.* Das einzige Ereignis, dessen Folge wirklich eine Chance hätte, die derart verdrängten Verbindungen Europas zu seiner Vergangenheit und seinem Anderen nicht länger mit Schweigen zu übergehen. Der Beginn einer wirklichen Übertragung dieser Schande auf den Histanalytiker.
[*Im Orig. humanité une et indivisible, Bezug nehmend auf die Charakterisierung der französischen Republik als une et indivisible (eins und unteilbar), die auf die Revolution zurückgeht. – A. d. Ü.] Titel des Essays, wie er in der neuen Lettre Internationalerscheint: „Das Jahr 1999 der unverjährbaren Metaschuld“
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