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Gewebe in Wallung

Heute startet Berlins tollstes Festival, der Club Transmediale. Sein Motto heißt dieses Jahr „Building Space“ – und genau damit ist der Berliner Künstler Kai Schiemenz in der CTM-Lounge beschäftigt

VON KITO NEDO

Seit acht Jahren schon ist das Festival „Club Transmediale“ (CTM) zum Feiern da – und zum Lernen. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Clubkultur und anverwandter Bereiche werden auch in diesem Jahr innerhalb weniger Tage so durchdekliniert, dass man ein Gefühl von „fast komplett“ bekommen kann. Spielerisch erfüllt der CTM seinen Bildungsauftrag. Schwer Erklärungsbedürftiges, neue Sounds und neue Begriffe, schwirrt locker-leicht durch die Räume und macht Lust und Neugierde und erzeugt immer auch einige Verwirrung.

Zwei Tage vor Start tut das in der Maria am Ostbahnhof, in der noch gebaut wird, erst mal das Wort „Bingo Wings“. So nennt der Berliner Künstler Kai Schiemenz seine Rauminstallation, mit der ihn das Organisationsteam des CTM beauftragt hat. Um diesen Titel zu erklären, macht der gebürtige Erfurter eine Robert-Lembke-Bewegung: Er winkelt seine Ellenbogen leicht an und hebt die Arme über den Kopf, als gäbe es etwas zu bejubeln. Dann erzählt er, dass „Bingo Wings“ in England ein Slangwort für erschlafftes Muskelgewebe an den Oberarmen vornehmlich älterer Damen sei, das beim Jubeln unwillkürlich in Bewegung gerate. So böse Witze traut man dem freundlichen Künstler mit den Disney-Figuren auf dem Sweatshirt eigentlich gar nicht zu.

Für die Entschlüsselung der Arbeit taugt der Titel dann auch nicht. Deshalb zeigt Schiemenz auf ein handtellergroßes, zweiteiliges Papiermodell auf dem Bartresen. Teil eins besteht aus vier gleichförmigen Ringen, die mit mehreren bunten Stecknadeln aneinander fixiert sind und die an klobige Hula-Hoop-Reifen erinnern. Objekt Nummer zwei besteht ebenfalls aus kreisrunden Pappstreifen, die aber stufenförmig nach oben wachsen, ein Amphitheater en miniature. Wie diese sehr grob skizzierten Modelle in irgendeine Realität umzusetzen sind, fragt man sich, aber der Künstler sagt, sie gäben eher die Richtung der eigentlichen Konstruktion vor und keine konkreten baulichen Details. Ein gewisses Maß Freistil gehöre nun mal dazu.

Seit ein paar Tagen sägt und schraubt ein halbes Dutzend Helfer jetzt an der raumfüllenden Umsetzung der Idee mit Bauholz. Die Hula-Hoop-Ringe hängen schon mit einem Durchmesser von sechs Metern fix und fertig im CTM-Lounge-Raum von der Decke. Im Moment ist man mit der Stabilisierung der Arena-Struktur darunter beschäftigt. Die soll während des Festivals sogar benutzt werden, als Podium für kleinere Diskussionen und Videovorführungen. 20, 30 Leute sollen auf ihr sitzen können. „Kino versus Lounge“, sagt Schiemenz zum Konzept und freut sich, dass seine Spirale anders als ein Kino oder eine Museumsarchitektur keine Blickrichtung vorgibt. Im besten Fall werden sich die Leute gegenseitig beim Ansehen von Videos ansehen.

Schon seit Ende der Neunzigerjahre beschäftigt sich der 40-jährige Künstler mit räumlichen Situationen und deren sozialer Organisation. Seine erste „Arena“ baute der HdK-Absolvent vor vier Jahren im Neuen Berliner Kunstverein (NBK), weitere begehbare Skulpturen folgten. Im letzten Sommer sorgte eine spektakuläre schneckenartige Turmkonstruktion, die er im polnischen Zamość für das internationale Ausstellungsprojekt „Ideal city – Invisible cities“ baute, für Aufsehen. Nach dem CTM wird Schiemenz ein „geschrumpftes Theater“ für seine Ausstellung in der Berliner Galerie Fahnemann Projects errichten.

Warum das Festival gerade ihn eingeladen hat, liegt auf der Hand: „Building Space“ heißt das Motto in diesem Jahr. Schiemenz’ Großskulptur ist einer von etwa zehn künstlerischen Beiträgen, mit denen die Macher neben „abenteuerlicher Musik“ auch „verwandten visuellen Künste“ einen Raum geben wollen. Nicht nur die Verschränkung von Sound- und Medienkunst und die damit einhergehende technische Konstruktion neuer, teilweise ganz handfester Erlebnisräume haben die Organisatoren hier im Blick, sondern auch die imaginären, kulturellen, politischen und sozialen Räume, die sich an der Schnittstelle von Nacht, Musik und Licht naturgemäß bilden. Sie seien hier jedoch nie Sklaven ihres Themas, sagt Jan Rohlf vom Organisatorenkollektiv und betont, dass die ausgestellten Arbeiten vor allem im Clubkontext funktionieren müssten.

Und das tun sie: Die unzähligen LED-Lämpchen in der Lichtinstallation „Cell Phone Disco“ des niederländischen Medienkunstduos Auke Touwslager & Ursula Lavrencic reagieren auf die elektromagnetische Strahlung der Festivalbesucher-Handys. Und dann die „Genretapete“, mit der Rohlf und die Gruppe Maverick gemeinsam die Barwand im hinteren Konzertraum tapeziert haben: Auf ihr stehen zirka 1.300 Genrebezeichnungen aus dem Popuniversum, darunter wirklich obskures Zeug wie „Evil Step“ oder „Amyl House“. Man möchte sich dieses oder jenes genauer erklären lassen, aber dafür ist die Zeit noch nicht da. Erst muss der Raum gebaut werden, damit der Club starten kann.

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