piwik no script img

Dialektisch geradeaus

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth erscheinen die frühen Texte des leidenschaftlichen Sozialisten, vorzüglichen ediert

VON URS MÜLLER-PLANTENBERG

Alle sind stets beeindruckt gewesen von der unbändigen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit, mit der Wolfgang Abendroth (1906–1985) lehrte und diskutierte. Das galt für die Vorlesungen des überzeugten Sozialisten am Marburger Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik ebenso wie für seine Debattenbeiträge über Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung.

Die Schärfe seiner Argumentation hat dabei niemals den menschlichen Respekt vor den kritisierten Gegnern vermissen lassen. Bei der Lektüre des ersten Bandes seiner „Gesammelten Schriften“, der zum 100. Geburtstag erschien, kann man jetzt nachvollziehen, woher Wolfgang Abendroth wohl die Sicherheit nahm, mit der er in seinem Denken Entschiedenheit und Beharrlichkeit mit selbstbewusster Unabhängigkeit verband.

Es stand eben nicht nur in der sozialdemokratischen Tradition der Frankfurter Familie, sondern noch mehr in der des Bundes der Freien Sozialistischen Jugend (BFSJ), für dessen Zeitschrift er eine ganze Reihe von Artikeln schrieb. Sie sind in diesem Band versammelt. Dieser BFSJ vereinigte, wie Abendroth 1928 schrieb, „die besten Traditionen der revolutionären Arbeiterbewegung und der deutschen Jugendbewegung, die Tradition des Sozialismus und die der Freiheit von der Bevormundung durch die Organisationen der Erwachsenen“.

Der BFSJ war zwar ein kleiner Bund innerhalb der Jugendbewegung, aber ihm war alles Sektiererische fremd, weil er es sich zur Aufgabe machte, „ungebunden durch Parteifesseln die Zusammenarbeit und Einigung der proletarischen Jugend zu fördern“ und „unbeschränkt von den Schranken leninistischer und antileninistischer Dogmas [sic] an der Entwicklung der Theorie und Praxis der proletarischen Revolution zu arbeiten“.

Schwerpunkt von Abendroths Aufsätzen in den späten Zwanzigerjahren ist denn auch vor allem die kritische Beobachtung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Sowjetunion nach Einführung der Neuen Ökonomischen Politik. Zudem befasste er sich mit den politischen Tendenzen in der „dogmenfrei“ halbsozialistischen Sozialdemokratie.

Der eher atheistische junge Abendroth lässt es sich aber auch nicht nehmen, mit der tumben Religionsfeindlichkeit Lenins historisch-politisch scharf ins Gericht zu gehen. Und natürlich interessieren ihn besonders die Entwicklungen innerhalb der deutschen Jugendbewegung sowie die Frage, wie mit dem Aufkommen antiimperialistischer und nationalistischer Strömungen umzugehen ist.

Den zweiten und bei weitem größten Teil des Bandes bildet die juristische Dissertation, die er während der Hitler-Diktatur im schweizerischen Bern einreicht. Sie analysiert die völkerrechtliche Stellung der Mandate, die der Völkerbund nach dem Vertrag von Versailles für die ehemals deutschen Kolonien an Großbritannien und Frankreich vergeben hatte. 1936 wird sie in Breslau veröffentlicht, aber sehr bald von der Gestapo beschlagnahmt. Die Arbeit weist Abendroth als profunden Kenner des Völkerrechts aus. Seine strikt positivistische Auslegung der Normen der Völkerbundsatzung dient dabei dem Zweck, die Entkolonialisierung der ehemals deutschen Kolonien als verpflichtenden Auftrag des Völkerbunds sichtbar zu machen.

Das NS-Regime bestrafte Abendroths unbeugsame Haltung mit vier Jahren Zuchthaus und anschließendem Dienst im Strafbataillon 999. Nach dem Krieg und britischer Gefangenschaft entschloss er sich, in der sowjetisch besetzten Zone zunächst sein Assessorexamen nachzuholen und dann als Jurist zu arbeiten. Bis Ende 1948 arbeitete er zunächst in der brandenburgischen Justizverwaltung, dann als Professor für Öffentliches Recht in Leipzig und Jena.

In dieser Zeit erkannte er relativ schnell, dass seine Vorstellung einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung unter sozialistischen Vorzeichen nicht mit der Praxis der SED-Führung zu vereinbaren war, da diese sich über das Recht stellte. Das machen die Aufsätze deutlich, die er in dieser Zeit schrieb. Ans Ende ihrer kenntnisreichen Einleitung haben die Herausgeber den Kündigungsbrief gestellt, den Abendroth an die thüringische Ministerin für Volksbildung schrieb.

Bequem hat es Wolfgang Abendroth den Autoritäten nie gemacht, auch nicht denen im Westen Deutschlands, wohin er im Dezember 1948 floh. Für die herrschende Lehre, aber auch für manche Leute in den Parteizentralen, war er ein lästiger Querdenker. Dabei erweist er sich schon bei der Lektüre seiner frühen Schriften eher als ein dialektischer Geradeausdenker. Die Herausgeber sind zu loben für eine sehr sorgfältige Edition, die auch für die weiteren Bände der „Gesammelten Schriften“ viel Gutes erwarten lässt.

Wolfgang Abendroth: „Gesammelte Schriften. Band 1. 1926–1948“. Herausgegeben von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler. Offizin Verlag, Hannover 2006, 600 Seiten, 34,80 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen