piwik no script img

Der Verlust der inneren Sicherheit

Verdächtige Koffer, verlorene Gestalten: Zwei Uraufführungen am Schauspiel Stuttgart malen den Großstadtdschungel in sparsamen Bildern

Lina ist ohne Plan, ihr Leben und manchmal sogar die Wörter sind ihr entglitten

VON CLAUDIA GASS

„Wie nimmt man einen Menschen wahr?“ Diese Schlüsselfrage aus Martin Heckmanns’ Stück „Wörter und Körper“ bohrt sich, aus den Lautsprechern oberhalb des Parketts tönend, in die Köpfe der Zuschauer. Sie bildet eine starke Zäsur in der ganz auf den Text und die Schauspieler konzentrierten Inszenierung von Hasko Weber. Wie nimmt man einen Menschen wahr? „Immer nur teilweise“, weiß eine der elf Figuren des Stücks.

Zwei Uraufführungen zeitgenössischer Dramatik hatte das Stuttgarter Schauspiel an diesem Wochenende auf den Spielplan gesetzt, neben „Wörter und Körper“, einem Auftragswerk des Theaters, Ulrike Syhas „Der Passagier“. Solch ein Uraufführungsdoppelpack sichert überregionale Aufmerksamkeit, zumal beide Autoren bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet sind. Der Intendant Hasko Weber setzt damit ein glaubhaftes Zeichen, dass es ihm am Schauspiel Stuttgart, zuletzt als Theater des Jahres gewählt, um eine nachhaltige Autorenförderung zu tun ist. Dass er selbst Heckmanns’ Stück auf der großen Bühne in Szene setzt, bekräftigt den hohen Stellenwert, den er der Vorstellung neuer Stücke beimisst. Syhas Stück „Der Passagier“ hat über den jungen Regisseur Enrico Lübbe den Weg ans Stuttgarter Theater gefunden.

An beiden Abenden begegnen wir modernen Großstädtern. Ihre Protagonisten sind unscheinbare, ganz alltägliche Menschen, die irgendwie aus der Spur dessen geraten sind, was man in Zeiten des globalen Kapitalismus unter gesellschaftlicher Normalität versteht. Heckmanns wie Syha haben ihre Figuren zwar sozial verortet, aber es geht ihnen vor allem um die inneren Bruchstellen, Beschädigungen und Verunsicherungen, nicht um Sozialkritik. „Der Passagier“ ist das formal interessantere Stück und packt zudem durch eine spannende krimiartige Handlung. Aber Heckmanns’ Figuren sind diejenigen, die nachhaltiger in ihren Bann ziehen.

„Wörter und Körper“ ist ein zartes, so melancholisches wie sanft ironisches Gespinst aus dramatischen und lyrischen Elementen, aus Prosa, aus Andeutungen und Leerstellen, das man sich beim Lesen kaum auf der einer großen Bühne vorstellen kann. Hasko Weber wählt für die Monologe und Dialoge nicht den Weg in die Enge, in ein auch räumlich intimes Kammerspiel, sondern betont die innere Verlorenheit der Figuren, indem er sie auf einer riesigen leeren Spielfläche agieren lässt. Bühnenbildner Mathis Neidhardt hat einen hellen Holzboden vorne dicht ans Parkett reichend und hinten in der Tiefe des Raums endend ins Schauspielhaus gebaut. Wie aus dem Nichts tauchen die Akteure aus dem Dunkel vor den Brandmauern auf, um immer wieder dorthin zu verschwinden. Nur der bisweilen Stumme (Jonas Fürstenau), der die Geschichte der zentralen Figur Lina erzählend begleitet, ist immer auf der Bühne präsent.

Die Sparsamkeit der Mittel erfordert vom Zuschauer viel Aufmerksamkeit und Konzentration. Auch mit dem dem eigentlichen Text vorangestellten Heckmanns-Gedicht „Das offene Fenster“, das vom schwierigen Umgang mit dem Tod eines Freundes handelt, hatte Weber einen Auftakt gewählt, der das Publikum durch seine Spröde herausfordert. Die Bezüge zwischen den beiden Texten sind offenkundig, denn auch in „Wörter und Körper“ geht es um Verlust, um Vergessen und Erinnerung. Die wunderbar poetische Sprache von Martin Heckmanns und die großartigen Schauspieler haben die Kraft, sich in der Leere der Bühne und im Purismus der Inszenierung zu behaupten. Lina hat zwar keinen Plan, ihr Leben und manchmal sogar die Wörter sind ihr entglitten, aber sie hat sich in Bewegung gesetzt, sich auf die Suche gemacht. Anna Windmüller verleiht dieser Lina, die mit ihrer unverblümt-naiven Direktheit und ihrer Forderung nach Anteilnahme überall aneckt, aber auch Veränderungen bei den anderen auslöst, anrührende Wahrhaftigkeit.

Ulrike Syha erzählt in „Der Passagier“ fast filmisch verschachtelt, in Rückblenden und Loops, mit epischen Zwischentexten, langen Monologen und prägnanten Dialogen von Theo, der aus seinem Leben als der immer nette Mister Nobody aussteigen will. Er spinnt eine raffinierte Intrige gegen seinen Bruder Nick, einen vermeintlich erfolgreichen, in aller Welt tätigen Fotoreporter. Die drei Hauptprotagonisten des Stücks – neben Theo und Nick noch Nicks Frau Lea – stellt die Autorin in ein Großstadtpanorama, repräsentiert durch ein Stimmengewirr und einige Nebenfiguren, die immer wieder die Wege des Trios kreuzen und auch spiegeln.

Regisseur Enrico Lübbe versucht die Fülle des kompliziert gebauten Texts mit einer recht strengen Inszenierungsform zu bändigen. Die Bewegung der Figuren, ihre Stellung auf der Bühne zueinander, folgen einer durchdachten Choreografie. Fast filmisch werden Beginn und Ende der Szenen auf- und abgeblendet. Der klaustrophobische, aseptische Kasten, den Hugo Gretler in der kleineren Bühne des Schauspiels, dem Depot, gestaltet hat, ist ein abstrakter Bühnenraum. Das Großstadtambiente muss der Zuschauer in seiner Fantasie entstehen lassen.

Die Spannung von Syhas Text entsteht nicht nur durch den thrillerhaften Plot um Theos fiese Intrige, sondern auch durch das Wechselspiel und die Widersprüche zwischen den inneren Vorgängen der drei Hauptfiguren und dem sie umgebenden Stadtalltag. Aber gerade dieses Flirren des Textes gewinnt in der immer ein wenig steif wirkenden Inszenierung von Lübbe kein richtiges Leben, obwohl die Schauspieler, allen voran Martin Leutgeb als der von allen für harmlos gehaltene Theo, gut sind.

Eine allgemeine, auch ins Private reichende Atmosphäre des Misstrauens ist der Boden, auf dem Ulrike Syhas Stück wächst. Wenn etwa Nicks harmloser Bordcase im Getränkeladen Panik vor Terroristen auslöst, hat das durchaus komisches Potenzial und trifft die Allgegenwart der Panikmache in unserem Alltag. Dennoch reicht diese Beobachtung nicht, die zerstörten Beziehungen der drei zentralen Figuren glaubwürdig zu erzählen. So hält Ulrike Syhas „Der Passagier“ das Publikum zwar in Spannung und fordert es auch intellektuell heraus, Martin Heckmanns jedoch erreicht mit seinem Stück auch die Herzen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen