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Auf Tod komm raus

Aidshysterie in den 80ern: Der Franzose André Téchiné will mit „Les Témoins“ (Wettbewerb) die ganz große Geschichte, versackt aber doch im Parabelhaften

Der verheiratete Polizist Mehdi (Sami Bouajila) und der jugendliche Manu (Johan Libéreau) liegen allein auf einer Wiese. Im Auto eben hat Manu nur flüchtig Mehdis Bein anfassen dürfen, jetzt lädt Mehdi ihn ein, mutiger zu sein. Als ein Hubschrauber über den beiden vorbeifliegt, nehmen sie Zuflucht in einem Gebüsch. Die Affäre, die sich nach dieser Begegnung zwischen ihnen entwickelt, bringt das Leben einer ganzen Reihe von Menschen gründlich durcheinander – vor allem das von Mehdis Frau Sarah (Emmanuelle Béart), einer Kinderbuchautorin mit Schreibblockade, und Adrien (Michel Blanc), dem platonischen älteren Freund von Manu.

Als Drama über ein fragiles Beziehungsgeflecht, das im Frankreich der 80er-Jahre aus dem Gleichgewicht gerät, wäre André Téchinés Wettbewerbsbeitrag „Les Témoins“ schon intrikat genug gesponnen. Aber Téchiné will mehr: Er will die ganz große Geschichte. Deshalb wird Manu, der frei und ohne Bindungen leben will, an Aids erkranken und sterben in einer Zeit, als die Ärzte noch keinen Namen für die neuartige unbekannte „Seuche“ hatten. Und deshalb sind Adrien und Mehdi nicht bloß Zeugen einer Zeit des Umbruchs und nicht nur Konkurrenten um die Liebe Manus, sondern darüber hinaus auch exemplarische Repräsentanten staatlicher Intervention – Medizin und Polizei – gegen das tödliche Virus.

Die gesellschaftlichen Antworten auf HIV deutet der Film in knappen, mit dokumentarischem Fernsehmaterial ergänzten Szenen nur an. Unter der Anleitung von Mehdi verstärkt das Kommissariat seine Repressionen gegen die Prostituierten des Viertels. Sie werden nicht länger geduldet. An der medizinischen Front setzt ein Netzwerk von Ärzten alles daran, die Krankheit mit den Mitteln der Wissenschaft zu bekämpfen. Natürlich ist Adrien hier ganz vorne mit dabei.

Leider bleiben die gesellschaftlichen Konsequenzen nur angedeutet, wie eine Diaschau am Rande, im Schatten der persönlichen Schicksale und individuellen Reaktionen. Téchinés Film ist geradezu zögerlich, wenn es um die Darstellung der nicht unbeträchtlichen Hysterien und Fehlinformationen geht, die damals weite Teile der öffentlichen Diskussion beherrschten (und die jederzeit wieder entbrennen können). Die Figuren wirken übercodiert, wodurch der Film etwas im Parabelhaften steckenbleibt. Durch die Einteilung des Films in Kapitel und die Bindung von Manus Krankheitsverlauf an den Gang der Jahreszeiten (Glück im Sommer, Tod im Winter) wird dieser Eindruck des Schematischen nur noch verstärkt. DIETMAR KAMMERER

„Les Témoins“. Regie: André Téchiné. Mit Michel Blanc, Emmanuelle Béart, Sami Bouajila, Johan Libéreau, Julie Depardieu. Frankreich 2007, 115 Min.Heute, 12 und 23.30 Uhr, Urania; 18. 2., 23.30 Uhr, Urania

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