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Verschwörung der Konstruktiven

AUS BERLIN UND BAD GODESBERG HEIKE HAARHOFF

Ausgerechnet Nierentuberkulose. „Haben Sie jemals von wem gehört, der an Nierentuberkulose erkrankt ist?“ Renée Haferkamp kann nicht fassen, wieso ausgerechnet ihr diese seltene Erkrankung widerfuhr, gerade damals. „Natürlich wollte ich 1957 zur Vertragsunterzeichnung nach Rom fahren! Unbedingt! Ich war doch von Anfang an dabei, ich hatte doch alles gedolmetscht! Aber es ging nicht.“

Fünfzig Jahre später sitzt Renée Haferkamp in einem Berliner Hotelzimmer. An diesem Wochenende wird hier das Jubiläum der „Römischen Verträge“ gefeiert. Mit denen besiegelten Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg am 25. März 1957 in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), es war die Geburtsstunde der Europäischen Union. Dazu hatte auch die Belgierin Renée Haferkamp als Dolmetscherin während der Verhandlungen beigetragen, bevor ihr die Nierentuberkulose die feierliche Vertragsunterzeichnung vermasselte. Es ärgert sie bis heute.

„Natürlich gab es Krach“

28 Jahre war sie damals alt, hatte ein halbes Jahrzehnt Berufserfahrung hinter sich. „Ich habe mich immer mehr für Politik als für Sprachen interessiert“, sagt sie. Aber für Frauen waren politische Karrieren damals utopisch. Dass sie später als Brüsseler Generaldirektorin den größten Sprachendienst der Welt leiten würde, dass sie in Harvard Vorträge zu „European Governance“ halten würde, hat sie nicht geahnt. Sie hat gedolmetscht.

Zunächst in Luxemburg für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Und nun eben in Val Duchesse, dem alten Schloss nahe Brüssel. Hinter dessen Mauern hatten sich die Delegierten der sechs Gründernationen zurückgezogen, um ihre Verträge auszuhandeln, unter Führung des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak.

“Es war eine konzentrierte Atmosphäre“, erinnert sie sich. „Wir arbeiteten von früh morgens bis spät abends, anschließend ging man gemeinsam ins Restaurant“. Zwei Verhandlungssprachen gab es, Französisch und Deutsch, und drei Verhandlungsräume. Drei Räume in einem abgeschiedenen Schloss, in dem Vertreter von Staaten gemeinsame Sache machen sollten, die sich noch zwölf Jahre zuvor erbittert bekriegt hatten. Und da soll es keine Spannungen gegeben haben?

„Natürlich gab es Krach“, sagt Renée Haferkamp, „inhaltlichen Krach. Um die Landwirtschaftspolitik, den Umgang mit den Kolonien. Auch die Größe der Bananen spielte übrigens schon damals eine Rolle.“ Aber erstens habe sie durch Ihre Art zu dolmetschen – nicht simultan, sondern konsekutiv, also erst dann, wenn der Redner geendet hatte – die Verhandelnden dazu diszipliniert, einander ausreden zu lassen. Zweitens habe niemand die Sinnhaftigkeit der Unternehmung in Frage gestellt. „Wissen Sie“, sagt Renée Haferkamp, „es gab diesen starken politischen Willen, es zu schaffen, einen Willen, der heute kaum mehr spürbar ist, weil keiner mehr weiß, was das heißt – nie wieder Krieg.“

Nie wieder Krieg. Ihre Mutter hatte ihr nach 1945 Mut gemacht, für dieses Ziel einzutreten. Auch wenn es bedeutete, dass am Verhandlungstisch Vertreter aus Deutschland sitzen durften. Aus Deutschland, das ihre Familie verfolgt hatte wie Millionen andere jüdische Familien. Als Renate Hertz war Renée Haferkamp 1928 in Köln zur Welt gekommen; der Familie gelang die Flucht vor den Nazis, erst nach Holland, dann nach Belgien. Dort versteckte sie ein Bauer bis zur Befreiung auf seinem Hof. Aus Renate wurde Renée, Haferkamp ist der Name ihres zweiten Ehemannes.

Sie ist eine Frau, die sich überlegt, wie viel Gefühl sie preisgibt. „Ich wusste, dass in der deutschen Delegation in Val Duchesse keine Nazis saßen“, sagt sie nur. „Und ich habe immer nur aus dem Deutschen ins Französische gedolmetscht, nicht umgekehrt.“ Womit sie den Franzosen und den Belgiern geholfen habe, die Deutschen zu verstehen. Nicht umgekehrt. Diese Sicht hat sie sich bis heute bewahrt.

Es gibt nicht viele Zeitzeugen, die die Bedeutung der Römischen Verträge so nahe bringen können. Da war, vor allem auf deutscher Seite, das glückliche Staunen darüber, dass die junge Bundesrepublik nur zwölf Jahre nach Kriegsende wieder vollständig in die westliche Staatengemeinschaft integriert werden sollte. Und andererseits die Skepsis, wie lange dieses Bündnis halten würde. Verbunden mit der Angst, dass es bei einem Scheitern doch wieder Krieg in Europa geben könnte.

Solche Gefühle existierten bei fast allen, die an der Aushandlung der Verträge direkt oder mittelbar beteiligt waren, unabhängig von ihrer Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Sprache. Auch bei dem deutschen Diplomaten Karl-Heinz Narjes: „Wir“, sagt der 83-jährige, „dachten immer, was geschieht, wenn etwas passiert?“

Karl-Heinz Narjes lebt heute im Bonner Villenviertel Bad Godesberg, die Wirbelsäule schmerzt, das Gehen fällt ihm schwer. Aber die Stimme hüpft, wenn er erzählt von damals. Narjes war stellvertretender Kabinettschef und der engste Vertraute des ersten Präsidenten der Europäischen Kommission, Walter Hallstein. Später wurde der CDU-Politiker Generaldirektor für Presse und Information bei der EWG, 1981 EG-Kommissar für den Binnenmarkt.

Die erste Nachkriegsaufgabe

Er hat Radio gehört an jenem 25. März 1957, er musste doch schnellstmöglich erfahren, ob jetzt endlich seine Traumkarriere beginnen würde. Er konnte ja nicht persönlich in Rom dabei sein. Dafür war Karl-Heinz Narjes damals ein zu kleines Licht.

Der Jurist war 1955, mit 31 Jahren, in den Auswärtigen Dienst eingetreten und seither im Konsulat in Basel mit den Pässen deutsch-schweizerischer Grenzgänger beschäftigt. Es war eine Aufgabe, keine Herausforderung. „Ich hatte“, sagt er, „meine Dissertation über Wirtschafts- und Zollunionen als Rechtsformen Auswärtiger Wirtschaftspolitik geschrieben.“

Wirtschafts- und Zollunionen als Rechtsformen Auswärtiger Wirtschaftspolitik. Es war das Prinzip der EWG. Es war ein Wagnis, es gab kein existierendes Vorbild dafür. Aber Karl-Heinz Narjes hatte ihre Machbarkeit bereits seit Ende der 40er Jahre vorausgesagt, als einer der ersten, wissenschaftlich und theoretisch. „Deutschland war ein besiegtes Land ohne Gestaltungsmöglichkeiten. Mir war klar, dass wir den Protektionismus überwinden müssen, wenn wir überleben wollen, und dass wir dazu den Freihandel brauchen.“

Seine Pionierarbeit floss in die EWG-Verhandlungen ein. „Die europäische Integration war die erste konstruktive Nachkriegsaufgabe nach der Trümmerbeseitigung“, glaubt Karl-Heinz Narjes noch heute. Er wollte dabei sein, er spekulierte darauf, „dass ich Basel verlassen und von der ersten Stunde an in Brüssel dabei sein würde – wenn Europa kommen würde“.

Klar war das keineswegs zu jedem Zeitpunkt. 1956 drohten die ambitionierten Verhandlungen zu scheitern – die Bedingungen, die Frankreich für seine Landwirte stellte, schienen inakzeptabel, auch gab es Streit um die Lohnnebenkosten. „Wir dachten, dann wird es eben nur der kleine Wurf, eine gemeinsame Energiepolitik beispielsweise“, erinnert sich Karl-Heinz Narjes.

Es waren internationale Krisen, die die zerstrittenen Westeuropäer wieder an einen Tisch brachten. Erst verstaatlichte Ägypten zum Zorn der ehemaligen Kolonialmächte England und Frankreich, aber mit Billigung der USA, 1956 den Suez-Kanal; es kam zum Suezkrieg. Wenige Wochen später schickten die Sowjets Panzer nach Budapest. „Da wurde in Val Duchesse klar, dass nur ein vereintes Europa Stärke zeigen und seine Interessen nach außen vertreten können würde“, sagt Karl-Heinz Narjes. In nur 100 weiteren Verhandlungstagen war der EWG-Vertrag perfekt.

Die Nazis hatten Karl-Heinz Narjes mit nicht einmal 20 Jahren zum Leutnant zur See ernannt; drei Jahre verbrachte er in kanadischer und britischer Kriegsgefangenschaft. Als er 1947 nach Deutschland zurückkehren konnte, erfuhr er, dass sich seine Eltern ein Jahr zuvor auf der Flucht vor der Roten Armee das Leben genommen hatten. Jetzt, 1957, nur zehn Jahre später, wurde er berufen, als stellvertretender Kabinettschef der EWG-Kommission in Brüssel das neue Europa aufzubauen – mit Kollegen aus Ländern, die Deutschland zuvor in einem grausamen Krieg bekämpft, besetzt, zerstört hatte.

„Wie das möglich war, nach Auschwitz?“ Karl-Heinz Narjes überlegt, dann beantwortet er seine Frage. „Das Ganze können Sie nur verstehen als Verschwörung der Gleichgesinnten und Konstruktiven. Wenn wir debattierten, wusste ich manchmal nicht, wer woher kam. Der Nationalismus war überwunden, zumindest in unseren Kreisen. Wir handelten nach dem Motto: Vergesst, was andere gemacht haben und machen, wir sind die Zukunft!“

Für Mitbestimmung keine Zeit

Wir sind die Zukunft. Wer dem nicht folgen mochte, der hatte in der Wahrnehmung von Karl-Heinz Narjes Pech. Kritische Zeitungsartikel über den Umgang mit Macht und Geld? Vorwürfe, in Brüssel schotte sich ein elitärer Kreis vor dem Rest der Welt ab? „Wir hatten gar keine Zeit, herumzureisen, die Bevölkerung mitzunehmen, Vorträge zu halten. Wir mussten zusehen, dass wir den Apparat aufbauen.“

Karl-Heinz Narjes und Renée Haferkamp, der Diplomat und die Dolmetscherin, ahnen, dass die Bürgerferne von Anbeginn an einen Teil des heutigen EU-Unmuts ausmacht. Und auch das hohe Ziel einer politischen Union sei im Laufe der Jahre irgendwie verwässert. „Es gibt keine gemeinsame Außenpolitik, es gibt immer nur die Suche nach irgendetwas“, klagt Renée Haferkamp. Es tut den beiden leid darum.

Dabei, finden sie, seien die Anforderungen an die EU nicht weniger dringlich als vor 50 Jahren. „Wir müssen die Gewichte neu vermessen“, sagt Narjes. „Der europäische Anteil an der Welt geht zurück, die EU ist unsere einzige Überlebensstrategie.“ Dazu gehöre, sagt Haferkamp, dass die Europäer endlich mit einer Stimme sprächen. Anstatt sich durch Vetos einzelner Mitglieder selbst zu blockieren und zum Gespött der internationalen Gemeinschaft zu machen. Wer solche Reformen anstoßen solle? „Naja“, sagt Karl-Heinz Narjes, „gucken Sie sich die politischen Dünnbrettbohrer von heute an.“ Er klingt wie einer, dem die Party verdorben wurde. Zur Zeit jedenfalls.

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