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Ich kann eure Gedanken lesen

Der Flaneur als Weltenkenner: Im Wrangelkiez wird Theater gespielt, und der Zuschauer erwandert sich das Stück. „La Marea“, erfunden vom argentinischen Autor Mariano Pensotti und vom HAU nach Berlin geholt, verbindet Intimität und Öffentlichkeit

VON RENÉ HAMANN

Ein Motorrad liegt auf der Straße, nachts um zehn auf der Wrangelstraße. Eine Frau sitzt auf ihrem Bett, man sieht sie durch das Fenster von außen; ein Mann steht betrunken auf seinem Balkon, ein Paar umarmt sich in einem Wohnzimmer, ein anderes knutscht auf der Straße. Alle diese Augenblicke stehen in einem größeren Zusammenhang: In Wahrheit sieht man nämlich Schauspielern bei der Imitation von Leben zu, umsonst und draußen, auf einem Abschnitt der Wrangelstraße in Kreuzberg.

Ein ganzer Straßenzug als Theaterkulisse. Initiiert wurde dieses etwas andere Theaterspektakel vom Theater Hebbel am Ufer, das immer wieder interessiert ist an Real-life-Formaten; Regie führt der Autor, der Argentinier Mariano Pensotti. „La Marea“ heißt das Stück, was so viel wie „Die Gezeiten“ bedeutet. Es ist unterteilt in parallel laufende, zehnminütige Szenen, die stumm gespielt, aber mit Text unterlegt werden per Lichtbildprojektion. So nimmt man das Werk als Patchwork wahr.

Am Mittwochabend war Premiere. Um halb zehn, dem offiziellen Start des Stücks, war es noch recht ruhig auf diesem abgesperrten Teil der Straße. Ich schaue mir eine Szene mit einem grüblerischen Herrn in einer Bar an und verfolge, wie das schauspielende Paar die Straßenseite wechselt, um sich einem langen Kuss hinzugeben. Neben ihnen läuft ein Text ab, eine Art innerer Monolog umherschweifender Gedanken.

So findet Denken statt. Assoziativ, mäandernd, selbstbezüglich, kommentierend. Und so ähnlich funktioniert auch die Sprache des Autors, Beobachtungen legen sich übereinander.

Die Straße füllt sich. Ein fremdes Mädchen lächelt mich an und verschwindet in der Menge. Kinder rennen herum und schreien von oder vom Vögeln. Man weiß nach einer Zeit nicht mehr genau, was inszeniert ist und was nicht.

Ich selbst, auf einer Bank unter einem Baum sitzend und Notizen machend, komme mir bald wie ein Schauspieler vor. Ein Anwohner fragt nach Feuer. Eine Anwohnerin stellt sich unfreiwillig vor die Fensterscheibe, hinter der das Paar im Wohnzimmer gespielt wird. Dauernd klingeln Handys. Die Kinder machen sich einen Spaß daraus, sich ins Projektorlicht zu stellen, von der Motorradszene bekommt man nicht viel mit. Die Frau im Schlafzimmer sieht gut aus (Franziska Roloff).

Nach zehn Minuten geht plötzlich ein gleißendes Scheinwerferlicht an und undifferenzierte Stimmen schallen aus den Lautsprechern. Die Zuschauer wandern von einer Szene zur nächsten. Sie essen Pizza von Pappschachteln und trinken im Kiosk gekauftes Bier, wenn ihnen eine Szene nicht mehr behagt, wechseln sie. So kann Theater funktionieren.

Es ist fast schade, dass die Schauspieler stumm bleiben – man hört lediglich die Musik, die Musik auf der Party (Kaiser Chiefs), das Klavierspiel der Ehefrau (vermutlich Mahler). Schauspielerisch ist auch nicht viel zu machen, und das Wenige sieht nicht unbedingt nach großer Kunst aus. Die alltäglichen Handlungen, die dargestellt werden, wirken oft zu hölzern, zu gestellt. Was der Inszenierung selbst aber keinen Abbruch tut, denn in der Hauptsache geht es um den Text, der unter den Handlungen abläuft. Dem Text nach lamentieren alle herum, lamentieren über sich und ihr Schicksal, über ihr Leben und ihre Umwelt. „Seit wann ist es Mode, so viel an sich zu denken?“, denkt sich beispielsweise die Frau im Schlafzimmer.

Die Idee ist also, Leben darzustellen, indem man Gedankenabläufe qua Text abbildet. Nur einmal wird eine Erzählhaltung angenommen und eine wilde Geschichte erzählt, über den Mann mit den Hanteln, der immer wieder von Maskierten entführt wird und erpresst, ein anderes Leben zu führen.

Das Verfahren insgesamt ist nicht neu, als Film, als Buch hat man es oft so vorgeführt bekommen, als offenes Theaterstück entfaltet es eine entspannende, dabei nachhaltige Wirkung. Die Überschneidungen zwischen unvermittelter und vermittelter Wahrnehmung, zwischen Realem und Dargestelltem erzeugen lustige Effekte. Die Literarisierung des Lebens lässt sich bald aufs eigene Leben zurückprojizieren, auch wenn das nicht immer funktioniert. Wenn es langweilig oder zu mühselig wird, kann man hier zur nächsten Szene übergehen; im realen Leben ist das nicht so einfach.

„La Marea“ von Mario Pensotti. Bis 12. Mai, jeweils 21.30 Uhr, Wrangelstraße zwischen Oppelner- und Falckensteinstraße, Kreuzberg. Eintritt ist frei.

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