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Archiv-Artikel

Gegenwart erklären – aus sich heraus

ANTISEMITISMUS IN BERLIN

Das Austreten aus dem grausamen Spiel Juden versus Araber ist möglich

Diese Woche wurde Antisemitismus sehr laut in Berlin. Plakate zeigten den israelischen Premier Netanjahu in Stürmer-Manier als Kinderfresser. Israelflaggen mit einem Hakenkreuz in der Mitte wurden geschwenkt, mehr noch auf Facebook gepostet. Und die israelische Botschaft erklärte, in Deutschland herrschten wieder Zustände wie damals, 1938.

Da ist er wieder, dieser Fehler: Wieder soll die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus erklärt werden. Exakt das Gegenteil ist sinnvoll – zumindest wenn Frieden das Interesse ist.

Dann nämlich geht es darum, Konflikte anhand von einigermaßen gesichertem Wissen zu verstehen und zu erklären.

Und gesichert ist: Verhielte sich das israelische Militär heute wie die deutsche Wehrmacht damals, dann gäbe es in Gaza keine 700 Toten, sondern eher 70.000. Verhielte sich das israelische Militär wie das Assad-Regime im benachbarten Syrien, wäre längst Giftgas eingesetzt worden, um sich an der Zivilbevölkerung für ihre Solidarität mit der Hamas zu rächen. In Gaza leben 1,8 Millionen Menschen. In Syrien wurden laut UN-Schätzungen 170.000 Menschen in den letzten drei Jahren getötet.

Genauso gesichert ist, dass es in Deutschland bis heute massiven Antisemitismus gibt. Dennoch ist er nicht in eins zu setzen mit der Aggression von 1938. Aber auch der in der Mitte der Gesellschaft laut Studien zunehmend akzeptierte „latente Antisemitismus“ ist mit nichts zu rechtfertigen. Er kann den Boden bereiten für die nun vorschnell vom israelischen Botschafter beschworenen antisemitischen Gewaltdelikte gegen Menschen jüdischer Kultur und jüdischen Glaubens.

Das Problem ist also: Diese Holocaustvergleiche von allen Seiten sind zwar einfach abzuräumen. Aber genau deshalb tun sie nichts dafür, dass Menschen geschützt werden, die als gläubige Juden erkennbar sind. Und nichts dafür, dass es für Palästinenser in Gaza und außerhalb eine angemessene Lebensperspektive gibt.

Die israelische Tageszeitung Ha’aretz macht es vor, jeden Tag: Das Austreten aus dem grausamen Spiel Juden versus Araber ist möglich. Die Kontroverse wird geführt, es gibt nicht die eine ultimative Meinung. Aber es gibt eine Haltung: Es geht immer um Menschen. Faschismus zeichnet sich dadurch aus, dass er Menschen das Lebensrecht abspricht.

Was hilft? Die Ereignisse anhand von Interessenkonflikten vor Ort zu erklären. Nur dann ergeben sich Handlungsmöglichkeiten. Darum muss es gehen, in jeder Diskussion: Auf der Straße oder beim Abendessen.

INES KAPPERT