: Starrkrampf des Riesen
Seit den 90ern wird über die Reform des Lehramtsstudiums diskutiert. Jetzt stellen die meisten Bundesländer auf Bachelor und Master um. Der Koloss Lehrerbildung droht unter die Räder zu kommen. Teil 1 der taz-Serie „Lehren lernen“
VON ANNEGRET NILL
Die Sonne strahlt durch die Schlieren auf den dicken Fenstern. Der rote Teppich im Raum ist zerschlissen. Etwa fünfzig Studierende drängen sich in der hinteren Hälfte. Kein Platz mehr frei hier. Ein Teil hockt an Tischen, viele fläzen sich auf Stühlen an der Wand. An der Stirnseite stellen zwei Studentinnen mithilfe eines Tageslichtprojektors und vielen Ähs und Hms eine Studie vor. Es knistert und raschelt, einige essen, einige tuscheln. Die Dozentin fragt: „Verstehen Sie dahinten alles?“
Ein Didaktik-Seminar an einer deutschen Universität 2007. Ob wie hier in Berlin oder anderswo, so läuft es an vielen Hochschulen der Republik: Wenig praxisnah, verschult, überfüllt. So sollte es nicht bleiben. Seit Mitte der 90er Jahre diskutieren Experten und Kultusminister über Reformen in der Lehrerausbildung. Ziel: die Lehrerausbildung verbessern, professionalisieren und stärker auf das Berufsfeld Schule beziehen. Die Theorie zugunsten der Praxis entschlacken. Wie viel davon ist bis heute bei den Lehrämtlern angekommen?
Treffpunkt Welfenschloss, Hauptgebäude der Leibniz Universität Hannover. Hier residieren Mathematiker, Informatiker und Elektrotechniker. Die große Halle im Tiefparterre unter dem Lichthof-Foyer mit Marmorboden wirkt wie eine Mischung aus Markthalle, Mensa und Arbeitstreff. Weiße Pfeiler stützen den Raum. Studenten hocken in Grüppchen auf schwarzen Holzstühlen, auf den roten Tischen stehen Laptops und Kaffee.
An einem der Tische sitzen Dennis, Steffi und Klaus. Sie gehörten zu den Pilot-Studierenden des fächerübergreifenden Bachelors, wie der neue Lehramtsstudiengang fürs Gymnasium in Hannover heißt. Er umfasst das Studium von zwei Fächern in der Kombination Major und Minor, das ist Bachelor-Slang für Haupt- und Nebenfach. Hinzu kommen Bildungswissenschaften, Fächer wie Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Bildungssoziologie. Dennis, Steffi und Klaus haben den Sprung zum Master geschafft. „Im ersten Mastersemester waren wir auf Probe eingeschrieben, da wir das Bachelor-Zeugnis erst im Februar bekommen haben“, sagt der 24-jährige Dennis, der Mathe und Physik studiert. „Offiziell brauchten wir einen Schnitt von 2,5, um auf Master studieren zu dürfen.“ Ohne Master kein Referendariat, also kein Lehramt. Es sei denn ein böses Gerücht bestätigt sich, das durch die Studierendenwelt geistert: Wer den Bachelor hat, aber den Master nicht schafft, wird mal als Billiglehrer angestellt.
Dass Lehramtsstudenten heute in vielen Bundesländern auf Bachelor und Master studieren, liegt daran, dass der Bologna-Prozess Mitte 1999 die Lehramts-Reformbewegung überrollte. Damals verständigten sich die Bildungsminister von 29 europäischen Ländern darauf, Mobilität und Zusammenarbeit zu erleichtern. Ein europäischer Bildungsraum mit vergleichbaren Hochschulabschlüssen sollte geschaffen werden. Die Eckpunkte: ein analoges Leistungspunkteprogramm und gestufte Studienabschlüsse. Bis 2010 sollen die meisten Uni-Abschlüsse in Deutschland auf Bachelor und Master umgestellt sein.
Allerdings hat die Umstellung in der Lehrerausbildung erst mal mehr Chaos und Abgrenzung produziert als Mobilität und Übersicht. Da Bildung Ländersache ist, hat jedes Bundesland andere Rahmenbedingungen für sein Lehramtsstudium geschaffen. In Ländern wie Niedersachsen und Berlin studieren künftige Lehrer bereits auf Bachelor und Master. Schleswig- Holstein und Hamburg strukturieren noch um. Bayern hat beschlossen, beim Staatsexamen zu bleiben. Damit nicht genug: In manchen Ländern entscheiden die einzelnen Universitäten über die Umstellung. Beispiel Thüringen: Dort hat Erfurt das Bachelor-Master-System eingeführt, während Jena beim Staatsexamen bleibt. Ewald Terhart, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Münster und Experte für Lehrerbildung: „Es gibt einige Länder, die in der Lehrerbildung Sonderwege gehen. Es gibt in den Ländern einige Unis, die eigene Modelle entwickelt haben. Und es gibt in den Unis einige Fakultäten, die sich bei Einzelfragen auf eigene Lösungen verständigt haben.“
Patricia studiert den fächerübergreifenden Bachelor in Hannover mit den Schwerpunkten Biologie und Chemie. Sie ist im dritten Semester. Die 21-Jährige hat Angst. Angst, dass es ihr gehen könnte wie ihrer Freundin. Die musste Chemie als Fach aufgeben, weil sie die hohen Anforderungen der fachwissenschaftlichen Dozenten nicht erfüllen konnte. Lehramtsstudierende müssen die gleichen Leistungen erbringen wie Studenten der Fachwissenschaften, obwohl sie wegen Schulpraktika und Bildungswissenschaften weniger Zeit dafür haben. „Polyvalenz der Studiengänge“ heißt die Regelung. Sie soll den Studenten die Wahl von Studienweg und Abschluss möglichst lange offen halten. Wer etwa auf Lehramt begonnen hat, soll problemlos zu einer Wissenschaftskarriere umschwenken können.
An den hohen Anforderungen hat auch Patricia zu knapsen. Die Chemiker sortieren radikal aus. „Als wir vor drei Semestern anfingen, waren wir achtzig. Heute sind noch fünfzehn übrig. Vielleicht sind wir bald nur noch zehn. Denn bei der letzten Klausur sind wieder viele durchgefallen. Wer auch Nachklausur und mündliche Prüfung nicht besteht, wird direkt exmatrikuliert.“ Patricias Nachteil: In der Oberstufe hatte sie Chemie nicht als Schwerpunktfach gewählt, deshalb hinkt sie hinterher. Dabei würde sie gerne weiter Chemie studieren und Lehrerin werden. Wenn sie es nicht bis zum Bachelor schafft, wird Patricia diesen Traum wohl aufgeben – und auf einen Fachbachelor in Biologie umsteigen.
Johannes gehört zum ersten Jahrgang der Bachelor-Studierenden auf Lehramt an der Freien Universität Berlin (FU). Im 6. Semester studiert er Biologie und Grundschulpädagogik. Mit ihm haben 330 Kommilitonen das Lehramtsstudium angefangen. „Heute sind davon 130 bis 180 übrig“, schätzt Johannes. „Am Anfang war es völliges Chaos. Viele Pflichtveranstaltungen haben sich überschnitten. Die Semesterwochenstunden waren zu hoch. Unmöglich, die Vorgaben zu erfüllen.“ Dazu kam die Blockadehaltung einiger Dozenten gegenüber dem Bachelor. Zum Beispiel bei den Physikern. Die Dozenten orientieren sich noch an den alten Anforderungen, als die Lehrämtler zwei Hauptfächer studieren mussten. „Viele haben gesagt: Physik ist im Nebenfach nicht studierbar“, sagt Johannes. Dabei werden Lehrer in Naturwissenschaften gesucht. Und: In den nächsten zehn Jahren gehen laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bundesweit 400.000 der 800.000 Lehrer in Ruhestand.
Das Problem: Die Ausbildung in den Fachwissenschaften liegt fest in der Hand der Fachwissenschaftler der jeweiligen Uni. Lediglich für die Bildungswissenschaften hat die Kultusministerkonferenz (KMK) zum Ausbildungsjahr 2005/2006 länderübergreifend verbindliche Standards verabschiedet. Seit März 2006 erarbeiten Experten Regelungen für die Fachwissenschaften. Für Physik und Deutsch liegen Entwürfe vor. Da die Standards als Gesamtpaket für alle Fächer in Kraft treten sollen, dürfte der Tag der Verabschiedung noch in weiter Ferne liegen. Besonders, da die KMK nur im Konsens entscheiden kann.
„Wenn wenigstens nicht so viel Zeit für Koordinationsarbeit drauf ginge“, stöhnt Biologiestudentin Patricia. „Manchmal müssen wir zum Prüfungsamt, zum Immatrikulationsamt und zum Dekanat rennen, um die Anforderungen zu klären. Und jeder erzählt was anderes.“ Dennis aus Hannover beklagt, das vielen Dozenten sich überhaupt nicht bewusst seien, dass Bachelor-Studierende weniger Zeit für die Prüfungsvorbereitung haben. Während Diplom-Studierende etwa drei Prüfungen pro Semester ablegen müssen, sind es bei ihnen neun. Zudem werden die Studienordnungen immer wieder geändert. Dennis: „Einmal wurde mitten im Semester ein Pflicht-Referat, das wir alle schon gehalten hatten, durch eine Klausur am Semesterende ersetzt. Entdeckt haben wir die Änderung zufällig – im Internet.“
Fünfmal wurde in Hannover seit der Einführung des Bachelors die Studienordnung geändert, konkretisiert Erika Schuck, Leiterin des Studienbüros am Lehrerzentrum Hannover. Die Mitarbeiter des Büros beraten und informieren Studierende und Dozenten, koordinieren und evaluieren Lehrangebote und Praktika – vier volle Stellen stehen dafür zur Verfügung. „Allein der fächerübergreifende Bachelor umfasst pro Jahrgang 500 Studierende in 16 Fächern“, sagt Schuck. „Dazu kommen etwa 220 Studierende der Sonderpädagogik und des Lehramts an berufsbildenden Schulen.“
Zusätzliche Mittel für die Lehramtsstudiengänge gibt es meist nicht. Gelder für die Lehrerzentren, die nach einer Empfehlung der KMK von 2000 an allen Unis entstehen sollen, würden nicht selten aus Restbeständen oder durch Zusammenlegung von Vorläuferinstitutionen zusammengekratzt, meint Bildungsexperte Terhart. Dabei werden künftig mehr Studierende erwartet. Das Arbeitsvolumen wird steigen – wenn nicht ein hoher Numerus clausus (NC) den Zugang zum Studium blockiert.
Schon jetzt gibt es hohe NCs auf Teilfächer – bis in höhere Semester. Auch deshalb kann ein Uniwechsel zum Stressfaktor werden. Zudem ist das Studium überall unterschiedlich aufgebaut, die Kombinationsmöglichkeiten der Fächer variieren wie eh und je von Bundesland zu Bundesland. Durch Bologna hat sich daran bisher nichts geändert. So kann man in Niedersachsen nicht die Kombination Politik und Geschichte auf Lehramt studieren. „Wer mit dieser Kombination nach Hannover wechseln will, den müssen wir ablehnen“, sagt Studienbüro-Leiterin Schuck. Auch innerhalb Niedersachsens unterscheiden sich die Modelle für das Lehramtstudium. Während sich Hannover für das Haupt-/Nebenfachmodell entschieden hat, besteht etwa Oldenburg auf dem „Equal-Modell“: zwei Hauptfächer.
Die Vielfalt der Modelle hat auch mit der wachsenden Autonomie der Universitäten zu tun, die nach dem Willen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) Priorität hat. Die Universitäten sind selbst für die individuelle Ausgestaltung der Bologna-Reformen zuständig. Schnell wird die Lehrerbildung dabei zum Spielball.
Eine Entschlackung der theoretischen Inhalte der Lehrerbildung zugunsten einer praxisorientierten Ausbildung liegt bisher in weiter Ferne. Stattdessen addieren sich heute die Anforderungen von Theorie und Praxis, die Verschulung nimmt zu. Dies hat auch mit dem enormen Veränderungsprozess zu tun, den die Hochschulen momentan durchlaufen. Solange aber die Lehrerbildung zwischen Universitäten und der KMK-Länderkakophonie zerrieben wird, wird sich daran wohl wenig ändern. Ein englischer Besucher hat es im Gespräch mit Bildungsexperten Terhart vor einiger Zeit auf den Punkt gebracht: Die deutsche Lehrerbildung käme ihm vor wie ein Riese, dessen Muskeln sich gegenseitig blockieren.
Der Starrkrampf des deutschen Riesen hält an. Die Auswirkungen auf die Studenten: unerfüllbare Ansprüche der Fachdozenten, zu wenig Zeit, ein zu dickes Pflichtprogramm. Deshalb werden wohl noch einige passionierte Lehramtsstudierende vorzeitig aufgeben. Schade.
Die neue taz-Serie „Lehren lernen“ über Lehrerbildung in Deutschland erscheint in loser Folge
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