das wäldchen ist weg von TOM WOLF:
Das Wäldchen ist ein magischer Ort. Es erquickt mich, wenn mir der Himmel auf den Kopf zu fallen droht. Alles wird wieder gut, verheißt das Wäldchen. Inmitten von Maisfeldern draußen vor der dreckigen Stadt steht es auf einem Hügel und wartet auf mich. Weithin winken die Wipfel seiner Kiefern.
Vor Zeiten entstand es, weil die rodenden Landwirte keine Lust mehr hatten, die Hügel dieser Gegend allesamt vom Wald zu befreien. Irgendwann haben sie schweißtriefend die nassen Flanken ihrer Ackergäule geklopft und gesagt: „Lassen wir’s gut sein. Die paar Bäumchen hier oben mögen stehen bleiben.“
Oder aber der liebe Gott, denke ich, während ich losfahre, hat das Wäldchen extra für mich geschaffen, damit ich mich darin ergehen kann. So lieb ist Gott zu mir, auch wenn wir uns nie begegnet sind und ich aus der Kirche ausgetreten bin. Ist das Wäldchen nicht ein Grund, wieder einzutreten? Ach, ich hab was gegen Vereine. Und Gott ist tot, das wusste schon Nietzsche.
Das Wäldchen verbirgt sich in einem Dickicht aus Autobahnen, Bahntrassen und Baustellen. Ich fand es zufällig vor einigen Jahren. In zwanzig Minuten bin ich mit dem Motorrad im Wäldchen. Ich kann auf dem Hügel im Wäldchen sitzen, kann den Dachsbau inspizieren, den es da gibt, oder ins Umland blicken. Dann sehe ich auch das eigene Motorrad weit unten stehen, wo die lange Allee aus Mirabellenbäumen entlangläuft. Dahinter sonnen sich Wiesen und Felder.
Am Rand des Wäldchens sitzend, angle ich mir einen Maiskolben und esse ihn. Ich lege mich ins hohe, teppichweiche Gras unter die Kiefern und überlege, ob das Gewitter bald anfängt oder ob mich die kreisenden Rotmilane da droben eigentlich inzwischen wiedererkennen? Am Ende des langgestreckten Wäldchens hat ein Bauer einen kleinen Haufen Feuersteine aufgetürmt – da kann ich nachsehen, ob ich diesmal wieder einen mit versteinerten Seeigelstacheln finde.
Seit Herbst war ich nicht mehr im Wäldchen. Ob ich alles wiedererkenne? Bin aber in meiner Aufregung falsch abgebogen. Hier kommt gar nicht der Hügel mit dem Wäldchen. Ich drehe um. An der Bundesstraße halte ich. Der Wegweiser, der auf die Kiesgrube der Firma Wagner hinweist – da steht er ja doch. Also noch mal, ganz langsam … Klare Sache: Die Allee ist abgeholzt. Ich blicke nach rechts. Da kann man das nächste Dörfchen sehen. Das konnte man früher nie.
Jetzt sehe ich die Kiefern des Wäldchens. Oder besser: das, was von ihnen übrig geblieben ist. Sie sind abgesägt und säuberlich zu einem riesigen Stapel aufgeschichtet. Bauarbeiter haben ein Camp aus gelben Containern errichtet, etwa anstelle des Wäldchens, nur zwanzig Höhenmeter tiefer. Es ist nicht mehr sicher, wo es überhaupt war. Vereinzelt liegen Baumstubben und vertrocknete Grasbüschel herum.
Was sie denn bauen, frage ich einen dicken Mann im Overall. Er hat gute Laune. Sagt, es war ein Haufen Arbeit, der Hügel. Jetzt haben sie ihn zum Glück weg. Eine Umgehungsstraße. Und die Allee? Wegen der Laster, die mussten ja durch! Ich grüße freundlich und kämpfe noch immer mit der fixen Idee, ich könnte mich an den Waldrand legen. Kann ich aber nicht. Gott ist ein Bauarbeiter.
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