Fragen der Ehre
: Jugendliche suchen Antworten

Editha Ehrmanntraut fährt mit ihrer Mutter regelmäßig im Bus an jener Stelle Tempelhofs vorbei, an der vor zwei Jahren Hatun Sürücü erschossen wurde – der „Familienehre“ wegen. Ihre Mutter, erzählt die 17-jährige Schülerin, sei immer wieder traurig darüber, zu welch falschen Taten sich Menschen aus verletzter Ehre hinreißen ließen. „Ich überlege mir dann, ob ‚fehlende Ehre‘ nicht passender wäre“, sagt sie. „Und was ‚Ehre‘ in diesem Kontext überhaupt bedeuten könnte.“

Ehre, das weiß Ehrmanntraut, ist kein Argument – weder für einen Mord noch für andere Taten. Sie ist vielmehr das, was der Kinderbuchautor Michael Ende einen Scheinriesen nennt: Je näher man ihr kommt, desto kleiner wird sie. Ehrmanntraut schaut jetzt immer ganz genau hin, wenn ihr der Begriff ‚Ehre‘ begegnet. „Ich überlege, was der Begriff ‚Ehre‘ an dieser Stelle ausdrücken möchte.“

Das Hinschauen hat Ehrmanntraut ein halbes Jahr lang geübt. Zusammen mit zwölf anderen Kreuzberger Jugendlichen nahm sie ab Januar vergangenen Jahres an dem Zeitschriftenprojekt Ehrensache teil. Zweimal die Woche traf sich die bunt gemischte Gruppe, Männer und Frauen, Christen und Muslime mit und ohne Migrationshintergrund, um über verschiedene Auffassungen von Ehre zu diskutieren und zusammen eine Zeitschrift zu dem schwierigen Thema zu produzieren. Die Kommunikationsdesignerin Tania Mourinho hatte das Projekt angestoßen, weil sie der Mord an Hatun Sürücü nicht mehr losließ. „Ich wollte einfach verstehen, wie so etwas mitten in Berlin möglich ist“, sagt sie. „Und wie die Leute in meinem Kiez darüber denken: Junge, Alte, Frauen, Männer, Deutsche, Türken – alle.“

Die 26-jährige Arzu Keles ist eine Frau, für die persönliche Ehre als Kodex sehr wichtig ist. Als Deutsche türkischer Herkunft, gläubige Muslimin und Kopftuchträgerin ging sie für die Zeitschrift Ehrensache der religiösen Rechtfertigung von „Ehrenmorden“ an Musliminnen nach. Keles ärgerte sich über mehrere Medienberichte, die den Mord mit dem Islam zu erklären suchten. Und sie wollte auch verstehen, warum Hatun Sürücü sterben musste: Ihre Familie und die Sürücüs kannten sich gut, einige Zeit vor dem Mord riss der Kontakt ab.

Für die Zeitschrift analysierte Keles Koransuren über die Stellung der Frau und fand ihre Ansicht bestätigt: „Der Koran rechtfertigt an keiner Stelle das Töten aus verletzter Ehre.“ In der Gruppe musste sie dennoch oft über den Islam sprechen und lernte auch komplett andere Auffassungen von weiblicher, männlicher oder religiös bedingter Ehre kennen. „Ich werde mich weiterhin an meine Grundsätze halten, aber respektiere auch andere Sichtweisen“, sagt die Fachhochschulabsolventin im Rückblick. „Jeder kann glauben, an was er will. Aber er soll deswegen keinen umbringen.“

Nach der intensiven Auseinandersetzung über Blutrache, Soldatenehre und ethische Grundsätze sind die ehemaligen TeilnehmerInnen des Projekts für das Thema sensibilisiert. Die Berichterstattung über Hatun Sürücü verfolgen die meisten weiterhin aktiv, Projektleiterin Tania Mourinho bekommt regelmäßig Hinweise auf interessante Fernsehfilme oder Veranstaltungen zum Thema.

Arzu Keles wurde neulich von einem Pädagogen angesprochen, der ein Theaterstück über „Ehrenmorde“ mit türkischen Jungs inszenieren will. „Mit denen sei es besonders schwierig“, weiß Keles aus Erfahrung. Denn für viele Männer ist die weibliche Ehre mit der eigenen verknüpft. Ob Keles bei dem Stück mitmacht, will sie sich noch überlegen. Nina Apin