: Meister der Hexenküche
VON WOLFGANG TEMPLIN
In Berlin, im ruhigeren Teil des Prenzlauer Bergs, nahe der Schönhauser Allee, gibt es ein wunderbares Café. Benannt ist es nach einer der farbigsten Gestalten aus Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“, und man bekommt dort hervorragende russische Küche, Wodka, Lieder und ist von der Atmosphäre eines Salons umgeben. An diesen Ort hatten uns vor kurzem Freunde eingeladen. Sie lachten, als sie merkten, wie gut es mir dort ging. „Das gefällt nicht nur dir hier“, sagten sie, „es gibt auch Prominente, die deinen Geschmack teilen. Das ,Volant‘ soll eines der Lieblingsrestaurants von Markus Wolf sein.“
Ich schluckte. Wenn jetzt die Tür aufginge und er hereinkäme, was würde ich machen? Aufstehen und rausgehen, ihn mit Nichtachtung strafen? Oder mich mit ihm fetzen? Er kam nicht und es wurde ein schöner Abend im Volant. Und jetzt erreicht mich die Nachricht seines Todes.
Wir sind uns nie persönlich begegnet, jedenfalls steht mir keine Situation vor Augen. Dennoch habe ich viel Zeit mit ihm verbracht, im Versuch, zu verstehen, was einen gebildeten, kultivierten, genussfreudigen Menschen wie ihn zum Mitanführer einer Bande zumeist primitiver Verbrecher werden ließ. Was ihn selber nicht nur mitschuldig und schuldig machte, sondern sein ganzes Leben darauf beharren ließ, diese Schuld zu leugnen und zu verdrängen.
Er wuchs wie viele andere mit einem großen Traum auf. Einem Traum, dem man in den 30er-Jahren in Salons und Kellern nachhängen konnte, in den Elendsquartieren der Großstädte und im letzten zugeschneiten Dorf. Oder eben auf der Komsomolschule in Moskau, die Markus Wolf zusammen mit Wolfgang Leonhard und anderen Kindern kommunistischer Emigranten besuchte. Der Traum, von der Morgenröte einer gerechten kommunistischen Welt, die anhob mit der Oktoberrevolution und mit den Namen Marx, Lenin und Stalin verbunden war. Angesichts der Missstände der Zeit konnte es kein Verbrechen sein, diesen Traum zu haben. Irgendwann musste man sich nur der Frage stellen, wann der Traum zum Albtraum geworden war, wie hoch der Preis der Neuen Welt denn sein durfte.
In den Jahren des schlimmsten Wütens der Stalin’schen Mordmaschinerie, als Wolfgang Leonhard und Markus Wolf gemeinsam in Moskau lebten, merkten kommunistische Kader oft erst im Erschießungskeller der Lubljanka, was es mit der scheinbaren Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ auf sich hatte. Nach ihnen gab es Millionen gläubiger Kommunisten, die bereit waren, für das künftige Paradies auf Erden durch Ströme von Blut zu waten.
Es ist vielleicht müßig oder kaum möglich zu unterscheiden, wer von den Mitgliedern der Gruppe Ulbricht und denen, die ihr folgten und die Machtübernahme der Kommunisten in der SBZ/DDR organisierten, wirklich gläubig und verblendet war, wen der Terror zum willenlosen Werkzeug werden ließ, wen Habgier, Opportunismus oder sadistische Unterdrückungslust antrieben. Markus Wolf und Wolfgang Leonhard, nach 1945 an der ideologischen Front tätig, handelten als junge Überzeugungstäter wie viele ältere Kommunisten, die der Hölle der nazistischen Konzentrationslager und Zuchthäuser entkamen, unter ihnen ein Robert Havemann.
Warum schaffte es ein Wolfgang Leonhard nach wenigen Jahren, die Wirklichkeit der neuen Diktatur und seine eigene Rolle darin zu erkennen, aber ein Markus Wolf nicht? Diese Wirklichkeit und Rolle nicht nur zu erkennen, denn das taten viele und duckten sich dennoch feige weg, im „Dienst der Sache“, mit allen Privilegien, die das brachte.
Wolfgang Leonhard war aus anderem Holz geschnitzt. Er zog die Konsequenzen, brach mit dem Kommunismus, ohne ein Reaktionär zu werden, sprach und schrieb über diese Zeit: den Prozess eigener Bindung und Lösung. Mir und vielen anderen in die DDR Hineingeborenen, die von der Verführungskraft der kommunistischen Idee noch Jahrzehnte später angesteckt wurden, haben die Bücher von Wolfgang Leonhard, Heinz Brandt, Artur Koestler und vielen anderen ehemaligen Kommunisten geholfen, den Weg ins Freie zu finden.
Markus Wolfs Entscheidung, sein Lebensweg, gestaltete sich anders. Als Wolfgang Leonhard bereits in Jugoslawien und später in der Bundesrepublik war, rückte Wolf in den Führungskern des Sicherheitsapparates der DDR auf. Was trieb ihn an, der ja um das Schicksal und die Entscheidung seines Jugendfreundes Leonhard wusste? Auch um die vielen anderen Abtrünnigen und „Verräter“. Anhaltende Verblendung, Karrieresucht, der Reiz, ein Meisterspion zu werden? Ein Typ für Angst und Feigheit, wie viele seiner Genossen, schien er nicht zu sein.
Hassen konnte ich sie später alle nicht, da ging es mir wie Biermann, verachten schon. Verachten ging bei Ulbricht und Mielke einfach, bei der Vaterfigur Pieck und dem gebrochenen Grotewohl schon nicht mehr so. Welches Gefühl sollte ich bei Markus Wolf haben? Gemessen an seiner Intelligenz und Weltläufigkeit, wirkten die Erklärungen von Markus Wolf, mit denen er seine eigene Rolle verteidigte, erstaunlich dürftig auf mich. Er musste doch wissen, wie der Laden lief, und trug an hoher Stelle die Mitverantwortung dafür. Erich Mielke hätte es keinem seiner Stellvertreter erlaubt, saubere Hände zu behalten, schon gar nicht dem Chef des Auslandsgeheimdienstes.
Alle westlichen Geheimdienste haben genug Dreck am Stecken, die spätere kollegiale Fraternisierung ihrer Vertreter mit Markus Wolf hat mich immer angeekelt. Dennoch gibt es entscheidende Unterschiede. Die Hauptverwaltung Aufklärung der DDR war zu keiner Stunde ihrers Bestehens ein „normaler“ Spionagedienst. Abgesehen von den Mord- und Terrorkommandos, den zahllosen Entführungen und anderen Verbrechen, in die die HVA verstrickt war, bestand ihr Hauptauftrag darin, das „Operationsgebiet“ Bundesrepublik für die feindliche Übernahme reif zu machen. Wie das funktionieren sollte, welche Einfluss- und Zersetzungsstrategien dabei im Spiel waren, hat der Autor Hubertus Knabe in mehreren Büchern analysiert und sich dafür die Entrüstungsschreie unverbesserlicher Geschichtsleugner eingefangen.
Rätsel gibt mir auch der späte Markus Wolf auf. Was trieb ihn, 1987, kurz vor dem Ende der DDR, die Brocken hinzuschmeißen, denn anders konnte man das „Ausscheiden vom aktiven Dienst“ nicht deuten? Seine Bücher und Selbstauskünfte helfen mir hier nicht weiter. Er gibt immer nur einen Bruchteil der Wahrheit preis und bleibt ein Meister der Camouflage. Wenn sich dereinst die Türen der KGB-Archive öffnen, wird die politische Rolle, die er für sich vorsah, wohl offenbar. Rückzug ins Privatleben und Schriftstellerei, mitten im Wirbelsturm der Perestroika, war seine Sache nicht. Während ein schmallippiger KGB-Offizier namens Wladimir Putin in Dresden künftige Perspektivkader sortierte, spielten Gorbatschows Vertraute und Markus Wolf ihr eigenes verdecktes Spiel.
Einem Teil dieses Spiels wären wir am Runden Tisch fast noch aufgesessen. Die Partie ging, Gott sei Dank!, anders aus, und Markus Wolf konnte sich dann doch noch seinen schriftstellerischen Neigungen widmen. Unterbrochen nur von gelegentlichen Belästigungen durch die Organe eines zahnlosen Rechtsstaates.
Was werden wohl seine alten Kameraden angesichts der Nachricht des Todes machen? In Trauer das Glas auf ihren Meister erheben, sich die letzten noch zurückgehaltenen Geheimnisse zuflüstern? Sein Begräbnis wird sie alle zusammenführen.
Vielleicht werde ich mich auch noch von ihm verabschieden. Ich geh ins Volant, höre mir russische Lieder an, bis die Tür aufgeht und er hereinkommt. Wir können dann ja über alle offenen Fragen reden.