„Es geht mir nicht um Lebenshilfetipps“

Man ist „entfremdet“, wenn man nicht mehr aktiv die Verhältnisse beeinflusst, in denen man lebt, sagt Rahel Jaeggi. Die Philosophin rehabilitiert einen Begriff der „Entfremdung“, der ohne Idee vom objektiv „richtigen Leben“ auskommt

taz: Frau Jaeggi, seit den Siebzigerjahren ist das Wort von der „Entfremdung“ schwer aus der Mode gekommen. Wie kamen Sie denn auf die Idee, diesen verstaubten Begriff neu aufzupolieren? War Ihnen das anfangs nicht peinlich?

Rahel Jaeggi: Na ja, peinlich? Es war nicht gerade ein „angesagtes“ Thema, als ich anfing, mich damit zu beschäftigen. In meinem Umfeld – im fachlichen und im privaten – wurde das Projekt von einigen anfangs schon mit einer Mischung aus Ablehnung, Mitleid und Erstaunen betrachtet – von manchen allerdings auch mit einer Art nostalgischer Wehmut.

Das Diktum von Karl Marx, wonach „die Masse“ durch ihre Arbeitsbedingungen entfremdet sei, wurde von Autoren wie Erich Fromm oder Adorno und Horkheimer noch erweitert: sie sei es auch in ihrer Freizeit. Schwang darin nicht immer die Beschwörung des einfachen, natürlichen Lebens gegen die Künstlichkeit der Moderne mit?

Ja, das ist der Standardeinwand: Entfremdung heißt doch immer Entfremdung von einem vorausgesetzten natürlichen Wesen des Menschen – und wir wissen doch längst, dass es so etwas gar nicht gibt.

Also lag die Kritik daran nicht falsch?

Gar nicht. Andererseits ist das, was man mit Entfremdung beschrieben hat, eine soziale Pathologie, die man ohne diesen Begriff schwer zu beschreiben vermag. Wenn man das aus der Hand gibt, gibt man zu viel aus der Hand. Das führt zu einer Verarmung des Vokabulars, mit dem man erfassen kann, was in einer Gesellschaft schief läuft. Gleichzeitig war mir natürlich bewusst, dass man den Begriff Entfremdung von der Vorstellung von einer „Natur des Menschen“ oder einem Ursprung, einer Bestimmung und einer wiederzuerlangenden endgültigen Versöhnung absetzen muss, wenn er etwas taugen soll. Aber ich denke auch, dass es schon für die Geschichte des Entfremdungsbegriffes nicht stimmt, dass er in einem solch platten Sinn essenzialistisch ist.

Also beim guten alten Marx.

Es war eher das Alltagsverständnis, in dem sich das ganz platte Muster von der Entfremdung als Entfremdung vom Wesen des Menschen durchsetzte. Meine Idee war nun: Wir können einen Entfremdungsbegriff entwickeln, der ohne solche Voraussetzungen auskommt.

Die Kritik am Begriff der „Entfremdung“ zielte ja auf die Idee von den „entfremdeten Bedürfnissen“. Was ist denn der Maßstab dafür, dass manche Bedürfnisse echter sein sollen als andere. Lässt sich dieser Paternalismus vermeiden?

Dieser Paternalismus stört mich besonders. Man hat da eine objektive Idee von menschlichen Bedürfnissen im Hinterkopf. Es gibt diesen linken, kulturkritischen Standardeinwand, dass uns Bedürfnisse aufoktroyiert und aufgeschwatzt werden, von den künstlichen Welten der Werbung et cetera. Übrigens gibt es eine ähnlich klingende konservative Entfremdungskritik.

Die Bedürfnisse des Menschen sind dynamisch und veränderbar und es ist gewissermaßen „nach oben hin“ offen, was wir alles wollen können. Andererseits kann daraus noch nicht folgen, dass alle Präferenzen, die Menschen äußern, allein weil sie sie faktisch haben, richtig sind – oder auch nur Ausdruck dessen, was sie wirklich wollen. Man sollte also das Projekt der Wunschkritik oder auch das Konzept der „wahren Interessen“ – die Thematisierung und Hinterfragung dessen, was wir wollen und brauchen – nicht aufgeben. Trotzdem muss man dabei nicht paternalistisch werden.

Das klingt wie die Suche nach einem Mittelweg?

Was ich in meinem Buch versuche, ist, das Augenmerk weg von den substanziellen Inhalten dessen, was wir wollen und tun sollen und hin zu der Art des Vollzugs zu lenken – also auf die Art und Weise, wie wir uns in dem, was wir tun und wollen, auf unsere Wünsche und Handlungen beziehen können. Konkret bedeutet das: Man sollte gar nicht erst anfangen, bestimmen zu wollen, welche spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten jemand verwirklichen muss, um ein „ganzer Mensch“ zu sein.

Dennoch lassen sich in der Art und Weise, wie wir uns auf das, was wir tun, beziehen können, oder wie wir uns etwa in sozialen Rollen bewegen und wie „anschlussfähig“ und offen Erfahrungen sind, die wir machen, Defizite ausmachen. Entfremdung ist dann eine „Störung von Aneignungsvollzügen“, wie ich es genannt habe – also eine Störung der Art und Weise, in der wir uns zu uns und der Welt in Beziehung setzen. Und diese kann man untersuchen, ohne auf die Idee eines inneren Kerns, von dem man sich entfremdet, Bezug zu nehmen. Aber auch ohne das für die Individuen objektiv Gute vorzugeben. So kann man von Entfremdung sprechen, ohne immer besser zu wissen als die Individuen, was diese eigentlich wollen.

Stellt der Rückgriff auf den Entfremdungsbegriff auch den Versuch dar, theoretisches Vokabular und Alltagsempfindungen wieder stärker in Einklang zu bringen?

Ich glaube tatsächlich, dass es hier um ganz alltägliche Phänomene geht: in Rollen „neben sich“ zu stehen, von Wünschen beherrscht zu sein, von denen man sich gleichzeitig distanziert, Indifferenz aber auch das Verwickeltsein in Lebensvollzüge, in die wir irgendwie hineingeraten zu sein scheinen und denen wir machtlos gegenüberstehen – obwohl es gleichzeitig wir selbst sind, die hier agieren.

Dass nicht wir unser Leben leben, sondern dass es uns lebt?

Ja. Für diese Alltagserfahrungen hat die Theorie ohne den Entfremdungsbegriff keine Sprache mehr. Deshalb habe ich mich dem Thema zugewandt. Gerade das war aber die Herausforderung. Schließlich ist es eine der Aufgaben der Sozialphilosophie, dem Leiden der Individuen an der Gesellschaft ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, damit sie sich besser verstehen und daraus Schlüsse ziehen können.

Was wäre denn dann ein „nicht entfremdetes“ Leben?

Wie schon gesagt: Nicht entfremdet zu sein, bezeichnet eine bestimmte Weise des Vollzugs des eigenen Lebens. Exemplarisch gesagt: Aneignung eines öffentlichen Raums beispielsweise bedeutet mehr, als dass man ihn benutzt. Entfremdet ist man, wenn man nicht mehr aktiver Teilnehmer der Verhältnisse ist, in denen man lebt.

Würde man Ihnen zu nahe treten, wenn man sagt, ihr Buch ist eine philosophische Hilfe zur Lebensführung – also so eine Art Lebenshilfebuch?

Das soll es ganz bestimmt nicht sein. Natürlich habe ich versucht, meine Thesen aus der Analyse alltäglicher Phänomene von Entfremdung zu gewinnen. Aber Entfremdung ist natürlich nicht lediglich ein Problem persönlicher Lebensführung und lässt sich auch nicht mit Selbsthilfetipps lösen oder damit, dass die Individuen sich einfach mal zusammenreißen oder tiefer in sich hineingucken. Entfremdung ist eine Erfahrung des Individuums. Aber diese Erfahrungen sind gesellschaftlich induziert. Es ist eine der Stärken des Entfremdungsbegriffs, dass in ihm Selbst- und Weltverhältnis, Individuum und Gesellschaft immer schon als miteinander verschränkt gedacht worden sind.

Viele stellen sich die Frage: „Wie soll man leben?“

Aber die kann man nie für sich allein beantworten.

INTERVIEW: ROBERT MISIK