: Die Zweifel obsiegen
RÜCKZIEHER Der Deutsche Leichtathletik-Verband nimmt Markus Rehm nicht mit zur EM der Nichtbehinderten – die Federprothesen des Weitspringers könnten ein Vorteil sein
VON SUSANNE ROHLFING
Der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm darf nicht auf der internationalen Sportbühne gegen zweibeinige Konkurrenten antreten. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) gab am Mittwoch bekannt, den 25 Jahre alten Paralympicssieger von Bayer Leverkusen nicht für die Europameisterschaften vom 12. bis 17. August in Zürich zu nominieren. „Ich finde das schade und enttäuschend“, sagte Rehm.
Formal hatte er die Bedingungen für einen EM-Start am Wochenende in Ulm erfüllt: Er war Deutscher Meister geworden und hatte die Richtweite von 8,05 Meter mit seinem Satz auf 8,24 Meter locker übertroffen.
Also eigentlich ein klarer Fall. Eine größere Rolle hätte Rehm bei den Nominierungsberatungen der Verbandsverantwortlichen eigentlich nicht gespielt – wenn er zwei gesunde Unterschenkel hätte.
Hat er aber nicht. Seit einem Wakeboard-Unfall im Alter von 14 Jahren fehlt ihm der rechte. Um überhaupt Weitspringer sein zu können, trägt der Orthopädietechnik-Meister eine Karbonprothese. Und diese Feder, sein großes Glück, ist jetzt das Problem der Verantwortlichen im Sport. Denn niemand weiß, ob sie Rehm einen Vorteil gegenüber seinen zweibeinigen Konkurrenten bringt, ob sie leistungsfähiger ist als ein menschliches Bein.
„Es besteht der deutliche Zweifel, dass Sprünge mit Beinprothese und mit einem natürlichen Sprunggelenk vergleichbar sind“, so begründete DLV-Präsident Clemens Prokop in Frankfurt die Entscheidung, Rehm nicht mit zur EM zu nehmen. Erste Tests in Ulm hätten ergeben, „dass sich Anlauf und Absprung signifikant unterscheiden“. Für den Weitsprung nominiert wurden der deutsche Vizemeister Christian Reif (Rehlingen, Bestweite in diesem Jahr: 8,49 Meter), der ehemalige Europameister Sebastian Bayer (Hamburg, 8,05) und Julian Howard (Karlsruhe, 8,04) trotz um einen Zentimeter verfehlter Norm.
Der behinderte Mensch als möglicherweise überlegene Spezies – das ist neu in einer Gesellschaft, in der Menschen mit Handicap vielfach um Anschluss im Alltag kämpfen. Das macht Rehm über den Sport hinaus zu einer Vorbildfigur und nimmt der Entscheidung über sein EM-Startrecht den rein sportlichen Charakter. Abgesehen davon hat sein Kräftemessen mit Zweibeinern das Potenzial, die große Show, die Spitzensport heute zweifelsfrei auch ist, ein bisschen schillernder zu machen.
All das mussten die DLV-Verantwortlichen bedenken. Umso verwunderlicher ist ihre Entscheidung. Es wäre nur konsequent gewesen, wenn der Verband den Weg weitergegangen wäre, den er in dem Moment eingeschlagen hat, als Rehm ein Start bei den Deutschen Meisterschaften genehmigt wurde. Er hat den Titel gewonnen und die Norm übertroffen, so betrachtet spricht aus rein sportlicher Sicht nichts gegen seine Nominierung.
Es sei denn, die Prothese verschafft ihm tatsächlich einen Vorteil. Aber selbst unter Biomechanikern ist man sich darüber nicht einig. Die Leistungen mit und ohne Prothese seien „mit Sicherheit nicht vergleichbar“, sagte Veit Wank von der Universität Tübingen in der Süddeutschen Zeitung. „Rehm zieht beim Absprung seine größte Energie aus dem – künstlichen – Sprunggelenk. Ein menschliches Gelenk kann das nicht leisten.“
Gert-Peter Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule Köln, der 2007 den Lauf des südafrikanischen 400-Meter-Stars Oscar Pistorius mit seinen zwei Prothesen untersucht hat, sieht dies anders: „Solange wir keine Zahlen haben, möchte ich nicht sagen, dass die Prothese ein Vorteil ist“, erklärt er. „Sie könnte genauso gut ein Handicap sein.“ Die in Ulm durchgeführten Messungen als Grundlage für eine Entscheidung hält er für nicht ausreichend.
Rehm befindet sich zurzeit in Kienbaum bei Berlin im Trainingslager. Da bereitet er sich auf die EM im Behindertensport vor, die Mitte August in Wales startet, in der Woche nach der EM der Nichtbehinderten in Zürich. Rehm tritt dort über 100 Meter und als Weltrekordhalter und Top-Favorit im Weitsprung an. Er hatte bereits vor der DLV-Entscheidung angekündigt, einen Start bei der EM nicht einzuklagen. Trainerin Steffi Nerius allerdings sagte: „Ich will das nicht kategorisch ausschließen. Markus sagt immer: Wenn ich fair behandelt werde, muss ich auch nicht klagen.“