Ortstermin: Auf der Programmkonferenz der SPD : Marx, Hartz und Teddybären
In der Reihe „Ortstermin“ besuchen Autoren der taz nord ausgewählte Schauplätze am Rande des Nachrichtenstroms
Die SPD ist ganz sicher nicht die erste europäische Sozialdemokratie, der die Grundsätze abhanden gekommen sind. Doch hinterlässt solch ein Verlust der politischen Identität bei Parteien offensichtlich das Gefühl einer gewissen Leere. Und so sucht die SPD in diesen Monaten auf gleich vier regionalen Programmkonferenzen nach einem neuen Grundsatzprogramm. Dessen erste Fassung trägt den originellen Titel „Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert“ und wurde gestern als „Bremer Entwurf“ in der dortigen Messehalle von Sozis aus ganz Norddeutschland diskutiert.
Während Franz Müntefering vom Podium herab einer Hamburger Delegierten erklären muss, warum im Entwurf des Parteivorstandes nirgendwo von einer „Humanisierung der Arbeit“ die Rede ist, schlendern im Foyer die Träger roter Schals zwischen Bockwurstständen und den Offerten des „SPD-Reiseservice“ umher. Daneben empfiehlt sich, wohl weil die Grundsätze noch nicht fertig sind, unter dem Label „Produkte mit Haltung“ ein recht trostloses rotes Allerlei aus SPD-Toastern, -Teetassen und -Teddybären zum Erwerb. Müntefering ist inzwischen in Messehalle 4 in die argumentative Offensive gegangen: „Unsere Aufgabe ist doch: Wir müssen sagen, was Sozialdemokratie in dieser Zeit überhaupt sein soll.“
Wie es sich gehört hat der Gastgeber, Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen, im Abschlussplenum das erste Wort. „Der Markt sorgt nicht für alle“, lässt er die Delegierten wissen. Das Land brauche einen „vorsorgenden Sozialstaat“, der nicht nur individuelle Nöte abfedere, sondern strukturelle Chancengleichheit sicherstelle – vor allem bei der Bildung. Dann stellt er fest, dass Bremen zwar gleichermaßen Schlüssel und Tor zur Welt sei, eine Konkurrenz unter den Nord-Ländern aber „unangebracht“.
Dem schleswig-holsteinischen SPD-Vorsitzenden Claus Möller bleibt da nur noch zu referieren, was die Partei „von Skandinavien lernen“ könne: „Auch in Zeiten der Einschränkung gilt es den roten Faden der sozialen Gerechtigkeit hochzuhalten.“
Weil sowas keine leichte Aufgabe ist, hat die SPD sich intellektuelle Verstärkung geholt: Oskar Negt, Professor der Soziologie und lange Jahre Berater Gerhard Schröders, äußert sich zu den „Erwartungen an das neue Programm“. Der Moderator, immerhin der SPD-Generalsekretär, stellt den Gast – „wenn ich das richtig gelesen habe“ – mit einem nahezu wörtlichen Auszug aus dessen Wikipedia-Eintrag vor. Negt dagegen lässt sich nicht lumpen: das Knastsystem der USA, die Philosophen Antonio Gramsci, Marx, Kant und Hegel sowie Hartz IV – in nicht einmal sieben Minuten. Der 21-seitige Programmentwurf sei zwar inhaltlich annehmbar, sagt Negt, aber auch „eine Hilfe zum Einschlafen … Mir fehlt hier die schlichte Systemkritik.“ Der Professor bekommt viel Applaus.CHRISTIAN JAKOB