Geist im Äther

Mit seinen Vorträgen, Reden und Essays war das Kulturradio der Fünfziger- und Sechzigerjahre eine intellektuelle Instanz der Bundesrepublik. Warum fehlt die kritische Stimme der Öffentlichkeit heute?

VON MONIKA BOLL

Die Hörbuchverlage haben sie als Erste wiederentdeckt: die Schatzkammern der Kulturnation, die Schallarchive der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Edition auf Edition legen sie die intellektuelle Geschichte der alten Bundesrepublik frei. Der gesamte Kulturadel der Nation ging während der Fünfziger- und Sechzigerjahre in den Funkhäusern ein und aus.

Bislang liegen die Vorträge, Reden, Essays, Gespräche, Lesungen von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Elias Canetti, Martin Heidegger, Ludwig Klages und Karl Popper vor. Das Hörwerk von Gottfried Benn, elf Stunden auf CD, erhielt im vorletzten Jahr den „Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik“. Und soeben rufen die „Nachrichten von Büchern und Menschen“, die Originalaufnahmen sämtlicher Radioessays von Arno Schmidt, das Entzücken des Feuilletons hervor.

Das solcherart wieder zugänglich gemachte kulturelle Gedächtnis animiert auch Buchverlage zu wehmütigen Erinnerungsanthologien. Stellvertretend für alle passionierten Radiohörer schreibt etwa der Verleger Michael Krüger: „Radio ersetzte mir die Universität: die Theorien von Adorno und Konrad Lorenz, die Lebensberichte von Jean Améry und Manès Sperber, die Zeitdiagnosen von Mitscherlich und Jaspers, die gesamte Literatur der Welt habe ich zunächst im Radio gehört. Wir waren, vor und neben aller Lektüre, radiogebildet.“

Die Begeisterung für die Hinterlassenschaften dieser Ära steht allerdings in einem eigenartigen Widerspruch zum mangelnden intellektuellen Selbstbewusstsein der Programmverantwortlichen in den Sendeanstalten. Nicht anders als heute sendeten die damaligen Radioredaktionen, die meist unter dem altfränkischen Titel „Abteilung Kulturelles Wort“ firmierten, für eine „qualifizierte Minderheit“, so lautete der soziologische Tarnbegriff, der die Bildungselite aus der Schusslinie des damals gleichfalls populären antielitären Ressentiments nehmen sollte.

Anders jedoch als heute, wo eine kritische Hörerinitiative, wie beim NDR in Hamburg, vom Programmdirektor persönlich als Kultur-Ajatollahs abgebügelt wird, gehörte das Ressentiment noch nicht zur serienmäßigen Mentalausstattung des internen Führungspersonals. Im Gegenteil, selbst in den leitenden Gremien konzedierte man, dass intellektuelle Selbstverständigung durchaus Marktplätze, freie Foren braucht, und dass die Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowohl ihrer föderalen Struktur wie ihrer politischen Satzung nach diese Aufgabe besser erfüllten als eine auflagenabhängige Presse oder zugangsbeschränkte akademische Öffentlichkeit.

Im Jahr der Geisteswissenschaften mag es deshalb opportun sein, daran zu erinnern, in welchem Ausmaß der Rundfunk die Pflege der Geisteswissenschaften betrieb. Zum einen, indem er sie aus der begrenzten Öffentlichkeit des innerakademischen Diskurses holte. Zum anderen, indem er damit das Radio endlich auch gesellschaftsfähig machte für eine intellektuelle Klientel, die lange noch hinter jedem Massenmedium die Machenschaften der Kulturindustrie witterte.

Die historisch besondere und möglicherweise einmalige Konfiguration dieser Radiokultur bestand in der Liaison, die in den Fünfziger-, Sechzigerjahren die klassische bürgerliche Öffentlichkeit, Kants kritisch räsonierendes Publikum mit dem elektronischen Massenmedium eingegangen war. Womit das real existierende Kulturradio sowohl die seinerzeit populären kulturpessimistischen Befürchtungen von Jürgen Habermas zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ widerlegte als auch Marshall McLuhans luftige Theorien über das Radio als verlängertes Medium der Buschtrommel.

An allen westdeutschen Sendern einschließlich des RIAS Berlin etablierten sich nach dem Krieg solche Hörlabore für bürgerliche Öffentlichkeit. In Hamburg machte dabei das „Nachtprogramm“ den Anfang. Es ging vor sechzig Jahren, im Winter 1947, erstmals auf Sendung. Wenig später folgten dann das Frankfurter „Abendstudio“ und das „Nachtstudio“ in München.

Wer waren die Redakteure, die diese Programme auf die Beine stellten? Unter ihnen findet man weder Funktionärsnaturen noch passive Multiplikatoren, die den Zeitgeist, den andere annoncieren, nur mehr breittreten. Überhaupt war die Schnittmenge von Literatur, politischer Publizistik und Funk wohl niemals größer. Die bekanntesten Redakteure hießen: Alfred Andersch, Walter Dirks, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel, Gerhard Szczesny. Heißenbüttel leitete noch bis in die Achtzigerjahre den „Radio Essay“ in Stuttgart. Das Schreibheft, das ihm vor einiger Zeit eine Ausgabe widmete, stellte auch seine Radioarbeit vor und zitierte Korrespondenzen mit Arno Schmidt, Heinrich Böll, Max Bense und anderen Celebrities der Sechzigerjahre.

Apropos Radiokorrespondenzen: ein Tipp für interessierte Verleger. Denn selbst diese Reichtümer sind bislang nicht einmal annähernd auch nur editorisch gesichtet. So manche Schrulle, manche possierliche Anekdote schlummert zwischen speckigen Aktendeckeln auf hauchdünnen, transparenten Maschinendurchschlägen. Etwa die Geschichte, wie selbst der große Gottfried Benn einmal vor dem klugen Herrn Adorno intellektuell kapitulierte und dies freimütig eingestand.

Vom Vorwurf des Elitären blieb freilich auch hier niemand verschont. Nach dem großen Vorbild des Third Programme der BBC sah man sich jedoch weniger in der Tradition eines Bildungsprogramms mit Volkshochschulcharakter, sondern als ein Programm für Gebildete. Anders als heute mangelte es dafür auch nicht an intellektuellem Selbstbewusstsein. Als der langjährige Herausgeber der Frankfurter Hefte, Walter Dirks, seinen ersten Jahresbericht für den WDR verfasste, schrieb er: „Die Zeiten, da einer den Revolver zu ziehen drohte, wenn er das Wort Kultur hörte, sind gottlob vorüber.“ Auch Gerhard Szczesny ließ bei seinem Publikum keinen Zweifel aufkommen, dass das erste Sendegebot des „Nachtstudios noch „zureichende Substanz“ hieß, und Alfred Andersch hielt die „Zumutung höchster Ansprüche“ schlicht für eine unabdingbare Voraussetzung seines Bemühens.

Als das Fernsehen Ende der Fünfzigerjahre allmählich ein amüsierwilliges Publikum vom Hörfunk abzog und die Radioredaktionen deshalb nicht resignieren, sondern ihre Kulturprogramme erheblich ausbauten, jubelte Horst Krüger, der Leiter des „Nachtstudios“ in Baden-Baden: „Gehlen, Adorno, Bloch! Schwierigste Lyrik, hermetische Kunst, gesprochenes Journal. Ein wirklich qualifiziertes Minderheitenprogramm – man versteht sich besser als bisher darauf, Hüter des Wortes zu sein.“

Solche O-Töne versenden die Funkhäuser heute nur noch selten. Dabei spricht aus ihnen viel weniger der böse, vermeintlich undemokratische Geist der Elite, als vielmehr ein damals bereits realistisches, heute mehr als notwendiges Bewusstsein für intellektuellen Minderheitenschutz, auch für forcierten Artenschutz und Nischenpflege einer Klientel, deren Partizipationsrecht an der öffentlichen Selbstverständigung zunehmend beschnitten wird.

Die freundlichen, gönnerhaften Absichtserklärungen zum Jahr der Geisteswissenschaften zeugen davon, dass die Geisteswissenschaften bereits auf dem Mitleidticket reisen. Vielleicht lässt man sich ja in einem Akt nachholender Gerechtigkeit noch auf irgendeine Quotenregelung ein – dann folgte auf die Quotenfrau der Quotenintellektuelle.

Die Quote, für die sich die Sender interessieren, ist freilich eine andere. Zwei Prozent pro Sendegebiet werden veranschlagt. Dies ist, verglichen mit der Masse der Medienkonsumenten, zwar eine zu vernachlässigende Quantität, die absolute Zahl liegt dennoch bei 200.000 Hörern, bei großen Einzugsgebieten noch einmal höher.

Gemessen an entsprechenden Buchauflagen eine durchaus beeindruckende Zahl, die auch leicht mit den großen Zeitungsfeuilletons mithalten kann. Damit verfügen die Sendeanstalten über einen nicht geringen Einfluss auf die geistig-politische Deutungsmacht im Land. Man fragt sich, warum sie sich diese Option eigentlich aus der Hand nehmen lassen sollten.