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Archiv-Artikel

berliner szenen Die angewurzelte Omi

Unbeirrt verwirrt

Karstadt am Herrmannplatz. In der Postfiliale sitzt mir eine alte Frau an einem der kleinen Schreibtische gegenüber. Ich habe das Gefühl, sie ist schon lange hier. Wie eine fleischfressende Pflanze lauert sie geduldig auf ihr Opfer – was bleibt ihr auch anderes übrig, schließlich ist sie angewurzelt.

Ich adressiere einen Umschlag. Ob ich Künstler sei, fragt sie, meines Erachtens zusammenhanglos – man könne gar nichts lesen: Kein Wunder, die Schrift steht von ihr aus gesehen auf dem Kopf. Ich verneine. Sie bekäme auch ganz oft die Post nicht, leitet sie über – wieder ohne erkennbaren Bezug, offenbar ein charakteristisches Element ihrer Gesprächsführung –, sie erhielte oft Mahnungen für Rechnungen, die sie nie gekriegt habe. Ob sie im Hinterhaus wohne, möchte ich wissen.

Sie sei immer zu Haus, glaubt sie zu antworten, und ich weiß, dass sie lügt, denn jetzt ist sie hier. Sie sei ja Berlinerin, so die Alte weiter, und habe sich über den Fall der Mauer wirklich gefreut – ich weiß inzwischen, dass die tückische Omi aus ihrer Beute auch noch die letzte höfliche Aufmerksamkeit heraussaugen wird –, vor dem Mauerfall habe es das jedoch nicht gegeben. Was der mit ihrer verschwundenen Post zu tun habe, frage ich, die hätten halt einfach zu wenig Personal. Ja, fährt sie unbeirrt fort, sie sei immer zu Haus und das mit der Post wäre erst seit dem Mauerfall so: Da arbeiteten jetzt „so komische Leute“. Juden? Irgendjemand ist in diesem Land immer schuld.

Ihr Zusteller habe ihr das auch bestätigt. Vielleicht hat der ja die Rechnungen geklaut, denke ich, und bezahlt sie jetzt heimlich. Ich werfe ein, dass ich nichts von Kollegenschelte halte. Auf Wiedersehen, sagt die alte Frau.

ULI HANNEMANN