: Nur das Motiv scheint klar
Alexander Litvinenko machte den Geheimdienst für Anschlagserie in Moskau 1999 verantwortlich. Ärzte bezweifeln, dass der Exagent mit Thallium vergiftet wurde
LONDON taz ■ Der russische Überläufer Alexander Litvinenko ist offenbar nicht, wie bisher angenommen, mit Thallium vergiftet worden. Die Ärzte, die den 43-Jährigen im Krankenhaus des Londoner University College behandeln, erklärten, dass sie geringere Mengen des Schwermetalls als erwartet gefunden haben. Den Grund für seinen Zustand werde man möglicherweise nie finden, sagte Facharzt Dr. Amit Nathwani.
Litvinenko ist am 1. November mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sein Knochenmark ist beschädigt, alle weißen Blutkörperchen sind vernichtet. Seine Freunde machen den russischen Geheimdienst FSB für den Mordversuch verantwortlich.
Ein Motiv gibt es allemal: Litvinenko hatte in einem Buch behauptet, dass der FSB hinter der Anschlagserie 1999 in Moskau und in anderen russischen Städten steckte, bei der 300 Menschen starben. Die Moskauer Regierung bezichtigte damals tschetschenische Separatisten der Tat, um den Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen, meint Litvinenko.
Litvinenko hatte zwei Verabredungen am 1. November. Am Vormittag traf er sich mit zwei Russen in einem Londoner Hotel. Bei einem der beiden handelte es sich um Andrei Logowoi, einen ehemaligen KGB-Agenten, der in Moskau eine Agentur für Privatdetektive betreibt. Logowoi hat in den Neunzigerjahren für Boris Beresowski gearbeitet, einen Mathematiker, der es nach dem Fall der UdSSR zu Reichtum brachte. Beresowski zerstritt sich vor sechs Jahren mit Putin und floh nach Großbritannien. Litvinenko behauptete 1998, er habe vom FSB den Auftrag erhalten, Beresowski umzubringen.
Am Nachmittag des 1. November besuchte Litvinenko mit dem italienischen Spionage-Experten Mario Scaramella eine Sushi-Bar am Piccadilly Circus. Scaramella gab vorgestern eine Pressekonferenz in Rom, auf der er erklärte, dass er Litvinenko gewarnt habe: Dessen Name stehe auf einer Mordliste.
Außerdem habe er ihm Namen von Personen vorgelegt, die in den Mord an der regimekritischen russischen Journalistin Anna Politkowskaja verwickelt sein sollen, mit der Litvinenko befreundet war.
Die Hälfte der Briten traut Moskau laut einer Umfrage jede Schlechtigkeit zu. Spionageexperten rechnen damit, dass es in Großbritannien zu weiteren Anschlägen dieser Art kommen könne: London ist sehr beliebt bei reichen Russen, die mit der Moskauer Regierung zerstritten sind. Ralf Sotscheck