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Archiv-Artikel

Ein jeder hinkt für sich allein

WENDUNGEN Ein ergreifendes Leben, in aller Schicksalsergebenheit erzählt: Robert Seethalers moderner Heimatroman „Ein ganzes Leben“

Fantasieorte – von Seethaler als Versatzstücke einer Alpenkulisse in ein kunstvolles literarisches Fantasiegebilde umgewandelt

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Verletzt ist er noch, der Egger, und geschwächt, und trotzdem schleppt er sich noch einmal an die Stelle, an der vor Kurzem noch sein Haus stand; „er wollte begreifen, was geschehen war, aber als er nach Stunden an sein Stück Land kam und die verstreuten Balken und Bretter sah, wusste er, dass es nichts zu begreifen gab“. Ein Schlag, einer von vielen, und Egger nimmt ihn hin, geht damit um und macht weiter, immer weiter.

Der Schauspieler, Drehbuchautor und Schriftsteller Robert Seethaler hat sich in seinen mittlerweile drei Romanen auf Außenseiterfiguren spezialisiert. Nun ist ihm ein Buch gelungen, das, man kann die Begriffe nicht vermeiden, so ergreifend und erschütternd ist, wie man es lange nicht mehr lesen durfte. „Ein ganzes Leben“ erzählt in aller Ruhe und in aller Kürze eine Biografie, mit all ihren Wendungen und nicht wenigen Katastrophen und ohne nach Pointen zu haschen. Das Bestechende an diesem Roman ist, dass er die gängigen Muster umkehrt: Er erzählt ungeheuer viel Spektakuläres, aber er verbirgt das hinter einem komplett unaufgeregten Stil, der die Schicksalsergebenheit des Protagonisten aufnimmt: „Ein ganzes Leben“ ist Sprache gewordener Fatalismus.

Die erste Bergbahn

Man muss sich einmal selbst aufzählen, was hier auf 156 Seiten geschieht: Andreas Egger ist vier Jahre alt und Waise, als man ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Stadt in ein Bergdorf bringt und beim Großbauern Kranzstocker absetzt, einem entfernten Verwandten seiner verstorbenen Mutter. Dort wird er durchgefüttert und körperlich misshandelt, ein Hinken bleibt zurück. Als die erste Bergbahn gebaut wird, wird Egger zu einem der wichtigsten Arbeiter; er kennt die Landschaft und kann klettern, vor allem aber, das ist sein prägender Zug, hat er keine Angst. So geht das Leben weiter: Er findet eine Frau, baut ein Haus, verliert alles, zieht in den Krieg, gerät in russische Gefangenschaft, bleibt dort acht Jahre, kehrt zurück und arbeitet, im Dorf zwar als Heimkehrer akzeptiert, aber als Sonderling isoliert, bis zu seinem Tod als Hilfskraft und Bergführer. Einmal verletzt sich eine Touristin auf einer Tour; nun könne man, sagt sie, gemeinsam zu Tal hinken. Nein, antwortet Egger, „ein jeder hinkt für sich allein.“

Selbstverständlich darf man die Frage stellen, ob dieser Form von Heimatliteratur, und darum handelt es sich fraglos, nicht etwas Reaktionäres anhaftet. Ganz entschieden nein: „Ein ganzes Leben“ ist keine Feier vergangener Zeiten, auch wenn die Technisierung und die damit verbundenen Veränderungen in den Menschen (Fernseher, Mondlandung) und in der Natur (Skipisten, Verkehr) genau wahrgenommen und protokolliert werden. Was allerdings nicht beschrieben wird, ist eine damit verbundene Entidyllisierung. Man spürt keinen Bruch, kein Vorher, kein Nachher. Die Welt geht ihren Gang und Egger geht mit.

Der Blick des Erzählers, der stets nahe an Eggers Seite bleibt, ohne ihm jemals zu nahe zu treten, ist stets auf die Gegenwart, auf das Jetzt gerichtet; es gibt keine Glorifizierung der Vergangenheit, aber auch, und das macht den Roman auf so brillante Weise erschreckend, nicht den Hauch eines utopischen Potenzials. Der große Abwesende, das fällt allerdings erst auf, als das Wort zum ersten Mal fällt, ist der Herr im Himmel: „Er war nie“, so heißt es gegen Ende des Romans, „in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben. Der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde.“ In die katholische Milieufalle geht Seethaler nicht. Wo auch immer Schmerzen, Krankheiten und Unglücke herkommen mögen – von oben kommen sie nicht. Allerdings kommt von dort auch keine Erlösung.

Ausgelegte Spuren

Nur scheinbar ist das Geschehen in einer ganz konkreten Geografie verortet; wenn man den im Roman ausgelegten Spuren folgt und im Internet nach den Schauplätzen des Romans sucht, die ganz und gar authentisch klingen („Karleitner“, „Zwanzigerkofel“, „Ferneis-Gletscher“, „Klufterspitze“), stellt man fest, dass all das Fantasieorte sind, die mit Sicherheit ein reales Vorbild haben, aber letztendlich von Seethaler als Versatzstücke einer Alpenkulisse in ein kunstvolles literarisches Fantasiegebilde umgewandelt worden sind. Das ist eine weitere Paradoxie: So distanziert und ruhig Seethalers Sprache auch daherkommt, so plastisch, anschaulich und sinnlich erfasst sie die Welt.

Egger zieht Bilanz; „er hatte länger durchgehalten, als er selbst je für möglich gehalten hätte, und konnte im Großen und Ganzen zufrieden sein“. Am Anfang war Winter. Am Ende ist wieder Winter. Egger war da und ist wieder gegangen. Die Menschen machen weiter. Immer weiter.

Robert

Seethaler: „Ein

ganzes Leben“.

Hanser Berlin,

Berlin 2014,

156 Seiten,

17,90 Euro