: Das Rohe und das Gekochte
HAUSMANNSKOST Grüne Klöße können mehr als eine Sättigungsbeilage sein: wenn man sie selbst zubereitet und von der Schwere der Tradition befreit
■ Die Zutaten: geschälte, mehlig kochende Kartoffeln, Salz
■ Die Anleitung: Drei Viertel der Kartoffeln grob reiben. In einem Tuch stark pressen. Kartoffelwasser auffangen und eine Stunde stehen lassen, bis sich die Stärke am Boden absetzt. Wasser abschütten, Stärke mit dem Kartoffelrieb mischen. Restliche Kartoffeln klein schneiden, ohne Salz mit wenig Wasser sehr weich kochen, zu Mus stampfen und heiß mit der Reibemasse mischen. Salzen, kleine Klößchen formen und mit einer Drehung in kochendes Salzwasser geben. Wenn das Wasser wieder aufkocht, Hitze reduzieren und die Klöße etwa 10 Minuten ziehen lassen. Die Klöße dürfen nicht kochen; der Topf sollte so breit sein, dass sie sich darin nicht berühren.
VON TILL EHRLICH
Die Hausmannskost erlebt gegenwärtig als „Landküche“ eine kleine modische Welle. Doch die Lust auf Sonntagsbraten, Saftgulasch, Kraut oder Klöße wird weitgehend virtuell befriedigt. Sie irrlichtert medial in Kochbüchern, TV-Kochshows oder Magazinen wie Landlust, doch ich kenne niemanden, der im echten Leben Lust hat, regelmäßig Hausmannskost zu kochen, geschweige denn zu essen.
In ihrer herkömmlichen Art konfrontiert die Hausmannskost mit ungewohnter Schwere, die von geballten Konzentrationen tierischer Fette und Proteine verursacht wird, was der postmoderne Körper nicht mehr gewöhnt ist. Zudem sind die besten Rezepte aus der ländlichen Küche oft sehr aufwendig. Beim Kochen kann man gewiss vieles vereinfachen, aber es gibt keine Abkürzungen. Garprozesse sind molekulare Prozesse, die ihre Zeit brauchen und sich nicht verkürzen lassen, wenn man denn auf Zusatzstoffe und Convenience verzichtet und mit echten Zutaten kocht – Convenience bedeutet „Bequemlichkeit“.
Hausmannskost zeitgemäß interpretiert zu kochen ist immer noch zeitaufwendig und kaum in den Alltag integrierbar. Dennoch kann es ein Erlebnis sein, bei dem man auch etwas über die Metamorphose von natürlichen Produkten erfahren kann: Eine Kartoffel zu schälen, zu reiben und daraus einen Kloß zu formen und behutsam gar ziehen zu lassen kann einige Male scheitern, weil sich die Klöße im Kochwasser auflösen oder hart wie Beton werden. Das ist eine Erfahrung, durch deren Unmittelbarkeit man in eine neue Beziehung zu natürlichen Produkten gelangen kann. Man bekommt Respekt vor der Kartoffel, erfährt, dass jeder Kochvorgang anders und unwiederholbar ist, weil jede Kartoffeln anders ist, einen anderen Stärkegehalt hat, was Einfluss auf die Konsistenz und den Geschmack des Kloßes nimmt. All das verpasst man, wenn man Klöße aus der Tüte verwendet. Hier beginnt die Macht der Foodindustrie und unsere Entfremdung von den Dingen, die wir uns täglich einverleiben. Der Verlust von Kompetenz hat immer einen Preis.
Das gegenwärtige Repertoire der Gemüseküche ist ausbaufähig. Jenseits von Risotto, Pasta und asiatischen Kombinationen können regionale Gerichte eine Fundgrube sein, wenn man sie nicht eins zu eins übernimmt, sondern sie infrage stellt und zeitgemäß interpretiert. Ein schönes Beispiel für das große Potenzial von Hausmannskost sind die „Grünen Klöße“. „Grün“ bezieht sich hier nicht auf ihre Farbe, sondern steht für „roh“, da sie aus rohen Kartoffeln hergestellt werden. Es ist eine regionale Variante der Kartoffelklöße, die ursprünglich aus Sachsen und Thüringen kommt und besonders als „Thüringer Klöße“ bekannt geworden ist. Von den unzähligen Kloßvarianten, die aus gekochten Kartoffeln, Weißbrot (Semmelknödel), Hefeteig (Böhmische Knödel) oder Grieß hergestellt werden, unterscheiden sie sich durch ihren sehr puren, herzhaften Geschmack und dadurch, dass sie im Original strikt ohne Zusätze und Bindemittel wie Eier zubereitet werden. Für eine fleischfreie Küche sind sie ideal.
Als reine Sättigungsbeilage sind diese Klöße etwas Anachronistisches, Altmodisches. Nach der traditionellen Zubereitungsweise werden sie zu großen Kugeln von etwa 7 bis 8 Zentimetern Durchmesser geformt, gekocht, auf dem Teller mit der Gabel zerpflückt und in die Fleischsauce gedrückt. Sie dienen quasi als Schwamm, um die Sauce von Schweinebraten, Schmorfleisch oder der Weihnachtsgans aufzusaugen.
Die Klöße stammen zweifellos aus der bäuerlichen Küche, jede Familie soll ihr eigenes Rezept gehütet haben. Auch bei der alltäglichen Kloßzubereitung soll die ganze Familie einbezogen gewesen sein. Die mühseligsten Arbeitsschritte, das Schälen und Reiben von unzähligen rohen Kartoffeln mit der Hand, war den Frauen vorbehalten. Bevorzugt wurden besonders stärkehaltige, mehlig kochende Kartoffelsorten. Dabei wurde jede einzelne Kartoffel am groben Reibeeisen zerrieben, wobei man aufpassen musste, dass man sich nicht die Fingerkuppen verletzte, da das Gebot der Sparsamkeit galt und die Kartoffeln bis zum letzten Millimeter abgerieben werden mussten. Die dabei gewonnene rohe Kartoffelreibemasse, der „Schaberich“, wurde von den Männern im „Presssack“, einem Leinenbeutel, trocken gedrückt.
Das dabei abgepresste Kartoffelwasser wurde nicht weggeschüttet, sondern in einer Schüssel aufgefangen, da es wertvolle Stärke enthält. Da Stärke in kaltem Wasser unlöslich ist, wartete man etwa eine Stunde, bis sie sich am Boden der Schüssel abgesetzt hatte. Diese Stärke wurde dann mit dem trocken gepressten „Schaberich“ vermengt, gesalzen und mit heißem Kartoffelbrei übergossen. Entscheidend dabei war, dass alles sehr schnell ging und die Kloßmasse heiß bleib, da die kalte Kartoffelstärke der Reibemasse nur bei Wärme quillt und verkleistert und so die Klöße ihre natürliche Bindung bekommen. War der Brei nicht heiß genug, fehlte Bindung und die Klöße zerfielen im Kochwasser.
Auch das Kochen der Klöße erforderte Fingerspitzengefühl. Kochte das Wasser zu stark oder blieben sie zu lange darin, lösten sie sich langsam auf. Um den Kochvorgang zu verkürzen, wurden die Klöße in der Mitte mit gerösteten Weißbrotwürfeln, Croûtons, gefüllt. Dadurch vergrößerte sich das Kloßvolumen, sodass sie schneller garen konnten. Ohne Croûtons wären sie in der Mitte noch roh geblieben, während sich die äußeren Schichten bereits aufgelöst hätten. Ein weiterer Trick war, dass die Weißbrotwürfel mit etwas Fett geröstet wurden, was geschmacklich Sinn macht und zudem bewirkte, dass die Brotwürfel im Kloßinneren nicht gänzlich aufgeweicht wurden.
Die Herstellung der Grünen Klöße war im Südosten Deutschlands lange Zeit ein familiäres Ritual, das nicht nur Zeit, sondern auch Geschick und Urteilsvermögen erforderte. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die Klöße flaumig und watteweich gelangen, ohne wässrig zu schmecken, was schnell passierte, wenn die Kloßmasse nicht heiß genug war oder zu wenig Stärke enthielt. Der Niedergang der Grünen Klöße begann, als man auf Abkürzungen zurückgriff, auf industrielle gefertigte Kloßmasse. Weil rohe Kartoffeln schnell braun oxidieren, werden solche Mischungen geschwefelt oder mit bleichenden Zusätzen versetzt. Mit den echten Grünen Klößen hat dies wenig zu tun.
Doch wie lässt sich das Potenzial der originalen Speise für die moderne Küche nutzen? Das Authentische ist nicht die Wiederholung des Alten, sondern dessen sinngemäße Interpretation. Grüne Klöße eignen sich perfekt für eine moderne und fleischlose Küche, wenn man sie leichter auf den Tisch bringt. Dazu gehört, dass man sie nicht zur Sättigungsbeilage degradiert, sondern als eigenständige Speise schätzt. Der erste Schritt ist, dass sie viel kleiner geformt werden mit höchstens etwa 4 Zentimetern Durchmesser. Auch die Füllung lässt sich raffinierter gestalten: Man kann mit den Brotwürfeln frische Thymian- oder Majoranblätter mitrösten, das erzeugt ein intensives Aroma im Kloßkern. Auch Backpflaumen oder geröstete Zwiebelwürfel sind eine gute Füllung. Statt Fleisch- und Bratensoße eignen sich heiße Kräuteremulsionen oder aufgemixte Meerrettich-, Senf-, Rote-Beete- oder Spinatsoßen, die man auf der Basis von Gemüsefonds zubereiten kann. Die Schärfe des Meerrettichs oder Senfs erzeugt dabei eine subtile Deftigkeit, die zu dem geschmacklichen Purismus der Grünen Klöße passt.