: Die Kunst des Fallens
PORTRÄT Sie ist durchscheinend und sie ist konsequent: Kathleen Morgeneyer spielt in Frankfurt und Berlin Theater. Jetzt wurde ein Solo für sie geschrieben, „Horror Vacui“
VON ESTHER BOLDT
Blau glitzert der Grund, verlockend ist seine Tiefe. „Langsam und unter Schmerzen“, sagt Kathleen Morgeneyer, „räume ich meinen Kopf leer.“ Und dann steigt sie raschen Tritts eine Leiter empor, verharrt einen Augenblick und springt bäuchlings auf den Bühnenboden, der überraschend nachgibt. 253-mal sei sie bereits gestorben, erzählt die Schauspielerin mit einem stillen Vergnügen im Gesicht. In dem Solo „Horror Vacui“ spielt sie Darstellungsweisen des Undarstellbaren durch: des Sterbens.
Das Stück des Regieduos „Auftrag: Lorey“ am Schauspiel Frankfurt erprobt mit trockener Poesie und unheimlicher Schönheit die Beschreibung, die Analyse und das Ausspielen von Sterbemomenten. Morgeneyer agiert als Schauspielerin, Todesengel und Leiterin einer Expedition ins Reich der letzten Bilder. Changierend zwischen Naheliegendem und Unfasslichem schafft sie Momente ungeheurer Leichtigkeit im Angesicht des Todes.
Bedingungslos scheint sich die 33-Jährige ihren Rollen hinzugeben, ob diese nun Nina heißen, Christine oder Lulu. Ihrem ebenso kraftvollen wie fragilen Spiel sieht man den Willen an, sich fallen zu lassen und die Konsequenzen des Sturzes zu tragen. Dabei wirkt die zierliche Frau mit der hellen Haut, den großen, blauen Augen und dem langen, blonden Haar stets etwas durchscheinend. Bekannt wurde sie in Jürgen Goschs grandioser Inszenierung von Tschechows „Möwe“ am Deutschen Theater in Berlin, wo sie Nina mit hinreißender Zerbrechlichkeit und Unbedingtheit spielte. Hierfür erhielt sie 2009 den Alfred-Kerr-Darstellerpreis beim Theatertreffen, die Fachzeitschrift Theater heute kürte sie zur „Nachwuchsschauspielerin des Jahres“. Im selben Jahr brachte sie Intendant Oliver Reese mit ans Schauspiel Frankfurt, zur Spielzeit 2011/12 wird sie nach Berlin zurückkehren.
Im Gespräch wirkt sie überraschend nahbar und unprätentiös. Fürs Theater schwärmte sie schon in der Schule, und als sie dort Kriemhild spielte, spürte sie „eine Dunkelheit, eine Entfernung von mir selbst“, die sie faszinierte. Der Rest taugt zur Legende: Sie verließ die Schule, fuhr nach Berlin und sprach an der Schauspielschule Ernst Busch vor. Doch die gerade 17-Jährige wurde gebeten, in ein, zwei Jahren wiederzukommen. Es sollten sechs werden. Morgeneyer lernte Pantomime und gründete in Chemnitz eine Performancegruppe. „Das war eine Experimentalzeit“, sagt sie heute. „Dabei habe ich die Sprache schmerzlich vermisst, Pantomime ist ja ein Spiel mit der Luft.“
Bei ihrem zweiten Versuch mit 24 Jahren wurde sie an der Schauspielschule angenommen. Von hier an ging es rasch voran, beim Intendantenvorsprechen erhielt sie Angebote mehrerer Stadttheater und entschied sich für Düsseldorf, „weil ich noch nie im Westen gelebt hatte und große Lust hatte, mit Amélie Niemeyer (Intendantin in Düsseldorf) zu arbeiten.“
Nach ihrem Erfolg als Nina hat sie wiederholt diese zerbrechlich-energischen Kindfrauen mit der eigentümlich singenden Stimme gespielt, von einem Rest ihres sächsischen Dialekts durchtönt. Ihre „Lulu“, inszeniert von Stephan Kimmig, war ein lapidar-verführerisches Feenkind, voll unbändigem Übermut auf der Suche nach dem nächsten Unglück. Ihre zweite Zusammenarbeit mit Kimmig sieht sie kritischer; in Schnitzlers „Liebelei“ spielt sie eine von Anfang an verlorene Christine, die in ihrer verzweifelt-verstiegenen Liebe schon vom Verlassenwerden weiß. In dieser Opferrolle fühlt Morgeneyer sich bis heute nicht ganz wohl, obgleich man ihr das auf der Bühne kaum anmerkt.
In „Horror Vacui“ kann man sie nun anders, neu entdecken. Mit trockener Lust erzählt die Schauspielerin von ihren Bühnentoden und spielt einige durch, Selbstmorde und Morde, erstochen und ertränkt werden, wobei ihre Hand zur Hand eines Anderen wird, der ihren Kopf gewaltsam unter Wasser presst. Mehr und mehr entfernt sich die Inszenierung von konkreten Todesdarstellungen, virtuos werden philosophische Exkurse über Heideggers Begriff des Werdenden mit physikalischen Berechnungen zum freien Fall verknüpft.
Minutiös schildert Morgeneyer das Zersplittern des Körpers beim Aufprall und stellt dem Vorstellungsvermögen des Zuschauers ihren eigenen Leib zur Verfügung – für einen höchst brutalen, imaginären Zerstörungsakt der splitternden Knochen und durchbohrten Organe. In dieser Versuchsanordnung des Undarstellbaren spielt sie weniger, als dass sie handelt – blank und bedingungslos.
In improvisierten Szenen kann man ihr beim hellwachen Denken zuschauen: Etwa wenn eine Infrarotkamera Gesichter einzelner Zuschauer erfasst und Morgeneyer anhand dieser Gesichter persönliche Erinnerungen wachruft – an die Schrebergartennachbarin oder den E-Gitarren-Lehrer. Das Hier und Jetzt wird zum Erinnerungsmoment, das Publikum spornstreichs eingemeindet in ihre Geschichte. Es gibt, das zeigt dieses beeindruckende Solo, noch viele unbekannte Gesichter von Kathleen Morgeneyer – und auf jedes einzelne darf man sich freuen.
■ „Horror Vacui“, Schauspiel Frankfurt, 16. und 18.–20. März