: Wenn die Inseln des Geistes und die der Nasen-Küsse versinken
Schriften zu Zeitschriften: „Mare“ recherchiert auf der Pazifikinsel Pitcairn, der „Mittelweg 36“ führt ins Herz der Gewalt, und „Cicero“ leidet unter dem Terror der Zerstreuung
Die Wonnen der Südsee hat Marlon Brando erlebt: In der Verfilmung der legendären Meuterei auf der Bounty 1789 verkörperte der Schauspieler den Anführer der Meuterer, Fletcher Christian, und gab sich dabei in einer berühmten Szene der sublimen Nase-Nase-Erotik seiner schönen Polynesierin hin – um ihr dann am Ende alteuropäisch machtvoll den Kuss zu rauben. In diesem Kampf der Kuss-Kulturen vereinten sich Eros und Gewalt, Hingabe und Wildheit zu schmachtender Kinosinnlichkeit.
Der Urururururenkel des realen Fletcher Christian wurde jüngst wegen fünffacher Vergewaltigung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Als Bürgermeister regierte er die Nachfahren der neun britischen Bounty-Meuterer, die 1790 mit ihren geraubten tahitianischen Frauen auf der menschenleeren Pazifikinsel Pitcairn gelandet waren. Dort hat sich im Laufe zweier Jahrhunderte eine autonome Gesellschaft von zurzeit 47 Bewohnern mit eher losen Kontakten zur Außenwelt entwickelt. Zu deren Eigenarten gehörte offen praktizierter und weithin akzeptierter sexueller Missbrauch der zwölf-, 13-jährigen Mädchen durch die Männer der Insel. Christian Schüle hat in der aktuellen Ausgabe von Mare diesen vor einiger Zeit durch die Presse geisternden Fall ausführlich recherchiert: Seit 1999 gab es Ermittlungen der britischen Behörden, neun Männer sind mittlerweile verurteilt. Ein verlorenes Paradies? Moralisch und juristisch ist die Lage jedenfalls äußerst unübersichtlich. Die Frauen der Insel verteidigten als Zeuginnen vor Gericht die Männer, deren Verhalten in Übereinstimmung mit den Inseltraditionen völlig korrekt gewesen sei (ohnehin sei Teenagersex in Polynesien ebenso weitverbreitet, wie die Zuständigkeit britisch-neuseeländischer Gerichte fraglich sei). Auch wenn die Traumata der Opfer auf der Hand liegen: Kulturrelativistische Perspektiven von Ethnologen drängen sich angesichts dieser traurigen Tropen unweigerlich auf.
Der Schrecken lauert überall: Tief ins Herz der Finsternis führt uns im aktuellen, überaus gelungenen Heft der Zeitschrift Mittelweg 36 Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Von Hause aus Literaturwissenschaftler, hatte er in seinem hier publizierten Eröffnungsvortrag des diesjährigen Soziologentags in Kassel eine weit ausgreifende Theorie der Gewalt entwickelt. Die Soziologie müsse sich endlich diesem Phänomen stellen, um einen ernstzunehmenden Beitrag zu einer Theorie des 20. Jahrhunderts zu leisten. Systematisch arbeitet Reemtsma die Formen auf, die als erlaubte, verbotene und gebotene Gewalt Bestandteil aller Kulturen sind. Irritierend ist dabei sein Hang zur bildhaften Inszenierung von Grausamkeit: Ohne metaphernsatte Überwältigungsästhetik – „die Ohren der Vietcong an den Antennen amerikanischer Jeeps“ – scheint, bei aller theoretischen Avanciertheit, eine Soziologie der Gewalt noch nicht auszukommen. Reemtsmas Erfahrung als einst vom Tod bedrohtes Entführungsopfer könnte dabei den existenziellen Motor seines Denkens bilden.
Warum die theoretischen Entwürfe seiner Wissenschaftlergeneration immer in Ansätzen stecken bleiben, erklärt uns „mit der schalen Ahnung, versagt zu haben“, Hans Ulrich Gumbrecht in der aktuellen Cicero-Ausgabe. Der in Stanford lehrende Romanist gehört wie Reemtsma zu den omnipräsenten deutschen Intellektuellen der Gegenwart, die „fast grotesk verspätet“ geistig erwachsen werden. Die Last der toten (Foucault, Luhmann, Gadamer, Koselleck, Derrida) oder allmählich zurücktretenden Väter (sein Stanforder Zimmernachbar Rorty, Habermas, Hayden White) wiegt eben schwer. Schuld an den „harmlos gewordenen Auseinandersetzungen“ und der „Entdramatisierung des intellektuellen Stils“ seien die fehlenden „Momente der Konzentration gegen den beständig pulsierenden Informationsfluss“ und der permanente „Zustand der Zerstreuung“. Weniger Präsenzproduktion in Cicero-Essays, dafür mehr in Großtheorien: Diese Therapie möchte man dem klugen Autor raten, damit auch die Inseln des Geistes nicht auf ewig verlorene Paradiese bleiben.
ALEXANDER CAMMANN
Mare, Nr. 58, Oktober/November 2006, 7,50 €, www.mare.deMittelweg 36, Oktober/November 2006, 9,50 €, www.his-online.deCicero, November 2006, 7 €, www.cicero.de