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Archiv-Artikel

Die Klassen von 1996

KONZERT Die Zuschauer wollten Neutral Milk Hotel nach drei Zugaben kaum von der Bühne des Postbahnhofs lassen

Ein bisschen fühlt man sich im Postbahnhof an diesem Abend wie auf einem Klassentreffen. Ein Klassentreffen allerdings, zu dem einige Eltern ihre auch nicht mehr ganz so jungen Kinder mitgenommen haben. Der Anlass: Eine Band, die man früher so lange gehört hat, bis der Walkman heiß wurde, hat sich nach 15 Jahren wieder zusammengefunden. Man ist nostalgisch, trinkt Bier aus Plastikbechern und steht aufgeregt unter dem massiven Holzbalkendach, unter dem früher Briefe und Pakete gelagert wurden.

Neutral Milk Hotel lassen sich Zeit, lediglich eine Lampe in Schäfchenform hat es auf die Bühne geschafft. Aber was ist schon eine Viertelstunde, wenn man mehr als 15 Jahre nicht mehr in Berlin gespielt hat?

Dann betritt Sänger und Gitarrist Jeff Mangum die Bühne. Der große Stoiker im Karohemd, mit Cuba Cap und zotteligem Haupthaar, das an den Koteletten in einen grau melierten Bart übergeht, spielt den ersten Song, „The King of Carrot Flowers Part One“, allein auf seiner Akustikgitarre. Zur Mitte des Songs betritt der Rest von Neutral Milk Hotel die Bühne, es wird punkig, fuzzy raw und tontechnisch gesehen etwas übersteuert.

Weiter geht es mit „The King of Carrot Flowers Parts Two and Three“, das mit einer getragenen Liebeserklärung an Jesus Christus beginnt, dann aber in eine quirlige Mischung aus Skate-Punk und Ska-Folk abgleitet. Bei „Holland 1994“ fühlt man sich tatsächlich an „Blink 182“ erinnert – auf eine gute Weise.

Neutral Milk Hotel schaffen es, in einem Song mindestens drei Musikstile zu verwursten, und zwar so, dass es musikalisch hinhaut. Dafür, dass dies reibungslos abläuft, sorgen vor allem die Bläser Scott Spillane und Jeremy Thal, der neben Trompete und Horn auch einen elektrischen Dudelsack sowie eine Orgel bedient. Im Zentrum der Bühne hüpft der immer noch bubenhafte Julian Koster mit seiner Hofnarrenmütze im Kreis, spielt abwechselnd Banjo, Bass, Akkordeon oder lässt seine Säge mit einem Geigenbogen singen, eine Art Markenzeichen der Band. Am Schlagzeug stabilisiert Jeremy Barnes, ebenfalls Gründungsmitglied der Band, besonders an den schrammeligen Noise-Stellen das Geschehen mit beinahe zärtlichen Schlägen.

Vor der Bühne singt der Jahrgang 1996 zusammen mit denjenigen, die damals noch die Grundschule besuchten, längst lauthals mit. Und nicht nur dort: Wenn Trompeter Scott Spillane – ebenfalls weißbärtig, mit Cuba Cap und der gemütlichen Leibesfülle eines Gartenzwergs ausgestattet – weiter nichts zu blasen hat, singt er mit weit aufgerissenem Mund jeden Song bis zur letzten Strophe mit, als fürchte er, der Spaß auf der Bühne könnte schon bald wieder vorbei sein.

Böse Zungen behaupten, die Band habe sich lediglich aus finanziellen Gründen wiedervereinigt. Warum sollte eine herausragende Band auch kein Geld damit verdienen, eine herausragende Band zu sein? Seit November vergangenen Jahres sind die fünf Musiker plus Mangums Frau, die Dokumentarfilmerin Astra Taylor, die Akkordeon und Gitarre spielt, beinahe nonstop auf Tour. Das erklärt zumindest, warum keine neuen Songs zu hören sind. Es fühlt sich an, als besuche man das Konzert einer Band in den späten 90ern, von der gemunkelt wird, sie würde das nächste große Ding der Indie-Szene werden. Nur dass die Haare der Musiker nun grauer und ihre Instrumente weitaus besser sind als am Anfang.

Neutral Milk Hotel spielen an diesem Abend im Postbahnhof hauptsächlich Songs ihres erfolgreichsten Albums, „In the Aeroplane Over the See“ von 1998, und einiges vom Vorgänger „On Avery Island“. Neben zwei EPs ist das dann auch schon das komplette Oeuvre der Band. Es ist den Musikern aus Georgia und Louisiana zu wünschen, dass sie nach ihrem Tourjahr zurück ins Studio gehen. Die Band, die viele andere wie Arcade Fire, Beirut, The Bright Eyes oder The Decemberists musikalisch beeinflusst haben soll, ist zu gut, um nur als Inspirationsquelle für andere zu dienen. Wenn es nach dem Applaus der Zuhörer geht, die die Musiker nach drei Zugaben kaum von der Bühne lassen wollen, ist die Zukunft von Neutral Milk Hotel in trockenen Tüchern.

ANNE-SOPHIE BALZER