: Ballade vom unheiligen „John“
TANZTHEATER Gesellschaft ist die Angelegenheit, bei der ein Drittel immer draußen ist. Das ist die traurige Bilanz von „John“, choreografiert von Lloyd Newson, uraufgeführt in Wien
VON UWE MATTHEISS
Die Drehbühne rotiert langsam, aber stetig. Ihre Bewegung bleibt in der Wahrnehmung des Zuschauers immer anwesend. In den ersten Minuten von „John“, Lloyd Newsons neuem Stück mit seinem DV8 Physical Theatre, das beim Festival Impulstanz im Wiener Akademietheater Premiere hatte, spielt die Apparatur die Hauptrolle. Wie das Malteserkreuz im Antrieb eines Filmprojektors Bild für Bild in den Strahlengang des projizierenden Lichts schiebt, wirft Newsons Bühne räumliche Skizzen vor den Blick der Zuschauer, die nach wenigen Sekunden wieder vergehen. Tableaus mit flüchtigen Begegnungen, statuarisch eingefroren, dann wieder in ein neues Bewegungsmuster aufgelöst. Tänzer kommentieren, erzählen Versatzstücke von Geschichten, die sich in Raumskizzen andeuten. Bevor sich aber so etwas wie eine „Situation“ im Theater etablieren könnte, hat sich der Apparat längst weitergedreht.
Die Bühne schaufelt unermüdlich kleine Dosen Wirklichkeit ins Theater. Das ist die Medikation, mit der Lloyd Newson den Rückfall in eine selbstbezügliche Leere beim Spiel künstlerischer Zeichensysteme therapieren will. Sein aktuelles Konzept von Tanz sucht wieder Boden unter den Füßen, versucht sich der Wirklichkeit zu vergewissern, um sie überhaupt erst befragen zu können.
Der britische Choreograf, an dessen Arbeiten ein Publikum seit den 80er Jahren gerade auch das Auf-die-Spitze-Treiben des menschlichen Bewegungsvermögens genoss, begibt sich auf den „dornichten Pfad“ der Kritik am tänzerischen Vokabular und seinen Voraussetzungen. Die erhoffte Erdung der Kunst an einer mess- und beschreibbaren Wirklichkeit geschieht überraschenderweise im gesprochenen Wort. Mit ihm erst gerät das Arrangement der Körper mit den Raumzeichen unter Spannung.
Newson ist als gelernter Sozialwissenschaftler sehr gut in der Lage, diesen Eintrag von Empirie in den Innenraum tänzerischer Zeichenproduktion methodisch geordnet zu gestalten. Das führt dazu, dass die in „John“ verdichteten Wirklichkeitspartikel nach der geläufigen Theaterkonvention so gar nicht „realistisch“ sind, sondern verstörend, unerwartet, aber auch mehrdeutig und in sich höchst widersprüchlich. Sie wirken so gar nicht tauglich für die „große Erzählung“, die immer dann einsetzt, wenn das Theater glaubt, direkt dran zu sein an der Realität. Das macht diesen Abend über viele Unschärfen hinweg brennend interessant.
Newson hat 50 Männer eingehend interviewt über ihr Leben, ihre Haltungen, ihre Sichtweisen. Es ging ans Eingemachte, die unvermeidliche Dreieinigkeit von Sex, Rausch und Gewalt. Dazwischen hebt immer wieder merkwürdig zart die Sehnsucht nach Anerkennung zwischen den breiten maskulinen Stiefeltritten an zu singen. Der erste Teil der Performance ließe sich getrost als Ballade vom unheiligen John überschreiben. Er entfaltet und verdichtet aus vielen Stimmen eine zwar unpathetische, aber umso bedrückendere Substandardexistenz, in der das Streben nach Glück auf den Erhalt des unemployment benefit (Arbeitslosenunterstützung) zusammengeschrumpft ist.
Gesellschaft ist die Angelegenheit, bei der ein Drittel immer draußen ist. Häusliche Gewalt, Missbrach, Drogenwirkung, zarte Liebesbande, Knast, Entzug, betreutes Wohnen, Kinder, denen es später genauso geht, sind Fragmente von Leben, die sich selbst nur noch als Fragment wahrnehmen können, als Dinge in der Obsorge von Armutsverwaltung. Nach dem Neoliberalismus sind alle Formen und Institutionen der Solidarität über den persönlichen Nahbereich hinaus ohnehin zerschlagen.
Zu hoffen gibt es wenig in „John“. Die Frage nach der Ethik stellt sich trotzdem in einer Gesellschaft, in der alles seinen Preis hat. Nach einem fließenden Übergang zum zweiten Teil der Performance forscht Newson nach dem richtigen „Umgang mit Menschen“ in veränderten Zeiten. Als Biotop seiner Forschungen wählt er eine vollkommene Marktsituation, die liberale Ökonomen eigentlich lieben müssten. Als Flaneur in der Schwulensauna entziffert er Codes, macht Witze über postkoitale Befindlichkeiten, zeigt Kontemplation im geschützten Szeneraum, Einsamkeit, Selbsthass von und zwischen perfekten Körpern, brave Schullehrer, die heimlich nach ungeschütztem Sex gieren in einer Welt ohne Abenteuer.
„Tu, was du willst, aber nie ohne Gummi“ – schon richtig, aber der kategorische Imperativ der Sexualmarktteilnehmer allein schafft noch kein gutes Leben. Da war doch noch was – geborgen sein, heimkommen können. Der Vorhang bleibt offen und die Fragen bleiben auch.