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Archiv-Artikel

Im Herzen der Republik

Die Stadt Wittenberge im Osten ist zurzeit ein beliebter Schauplatz für Kino- und Fernsehfilme. Denn ihre Kulisse eignet sich perfekt, um ein globales gesellschaftliches Problem zu veranschaulichen: den demografischen Wandel. Über eine Stadt, die ihre Zukunft im Alter sucht

VON SIMONE SCHMOLLACK

Nina Hoss steigt aus dem Zug und läuft durch eine menschenleere Straße. Sie wird von einem Mann verfolgt, es ist ihr Exmann. Nina Hoss ist Yella in dem gleichnamigen Film von Christian Petzold, für deren Darstellung sie gerade den Silbernen Bären der Berlinale bekommen hat.

Yella ist eine junge Frau, die den Osten verlassen hat, um im Westen ein neues Leben anzufangen. Ein Leben mit Arbeit und Sinn und nicht so vergeudet wie in Wittenberge, wo sie herkommt. Nur für kurze Zeit kehrt Yella zurück in ihre Heimatstadt, sie will sich hier nicht lange aufhalten. Man ahnt es mit jedem Schritt, den die junge Frau durch ihre Vergangenheit tut. In dieser Stadt drohen materielle und seelische Verarmung. Außer Yella und dem Mann, der sie noch immer liebt, sieht man kaum einen Menschen.

„Yella“ ist nur ein Film, könnte man sagen, einer, der die Wirklichkeit überzeichnet. Doch Petzolds Film muss gar nicht übertreiben, sondern einfach nur zeigen: eine Kleinstadt in der Prignitz, im Länderdreieck Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen. Zu ihren Füßen schlummert die Elbe in ihrem Flussbett, ringsherum machen sich Wiesen, Felder, Kleingartenanlagen und Dörfer breit. Das klingt nach Unaufgeregtheit und sieht aus wie ein Rückzugsort der Stille. Das ist es auch. Wittenberge ist im besten Sinne gemächliche Provinz und im schlechtesten stadtgewordene Depression.

So manchen Wittenbergern tun solche Worte weh. Sie lieben ihre Stadt, sie sind hier geboren, zur Schule gegangen, sie haben hier geheiratet, ihre Kinder bekommen. Und sie werden hier ihren Lebensabend verbringen. Sie sagen: Diese Stadt ist wie jede andere auch. Wir haben alles, was wir brauchen: Supermarkt, Tankstellen, McDonald’s, H & M, ein Kulturhaus, einen Griechen, einen Italiener, ein Kino mit vier Sälen, von denen drei jeweils zwanzig Plätze haben. Mit der Bahn braucht man nach Berlin gerade mal eineinhalb Stunden, nach Hamburg sogar nur eine Stunde. Wittenberge liegt im Herzen der Republik. Und: Wittenberge ist immer öfter Anlaufpunkt für Filmteams, es kann also gar nicht so schlecht sein. Auch der ZDF-Zweiteiler „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ über das Leben von Hans-Jürgen Massaquoi wurde hier gedreht. Dafür hat das Filmteam Straßenecken und Plätze gesucht, die so aussehen, als sei es die Zeit zwischen 1926 und 1948, in der das TV-Stück spielt. Roter Backstein, Balkone mit Eisengittern, glänzendes Kopfsteinpflaster, dichte Bäume. Aber auch abgefallener Putz, diskreter morbider Charme.

Die Stadt hat mehr als ein Problem. Das erste: Sie wird oft mit Wittenberg verwechselt, der Lutherstadt in Sachsen-Anhalt. Touristen schlendern durch die Innenstadt des Prignitzer Ortes und halten Ausschau. „Wo, bitte, finden wir denn hier die Kirche?“, fragen sie. Genervte Anwohner antworten dann: „Eine sehen Sie gerade vor sich. Für die andere, die mit den Thesen, müssen Sie etwa 200 Kilometer weiter elbaufwärts fahren.“

Das zweite: Bevölkerungsschwund, Wegzug der Jungen und gut Ausgebildeten, Arbeitslosigkeit. Die Quote liegt bei knapp 18 Prozent. Nora, 16-jährige Gymnasiastin, will nach dem Abitur „auf jeden Fall in einer größeren Stadt studieren. Egal, ob Hamburg, Berlin oder Schwerin.“ Sie sagt: „Wenn man etwas werden will, muss man hier weg.“ Auch nicht wenige Frauen und Männer im sogenannten Mittelalter würden gehen, wenn sie könnten. Aber sie haben noch Arbeit und haben kurz nach der Wende ein Haus gekauft oder neu gebaut. Das würden sie nicht loswerden, ohne auf einem Berg Schulden sitzen zu bleiben. Wittenberge ist die Stadt der Zukunft. Im Ranking hinsichtlich des Bevölkerungsschwunds, der Steigerung des Altersdurchschnitts, dem Rückbau von Wohnanlagen und der Ausrichtung auf eine City der Senioren, läuft Wittenberge jedem anderen Ort den Rang ab. So wie Wittenberge heute schon aussieht, werden in wenigen Jahren zahlreiche Kleinstädte sein. In Ost und West.

Die Stadt hat eine Chance

1990 hatte Wittenberge 28.000 Einwohner, zehn Jahre später waren es 22.200 und in diesem Jahr sind es nicht einmal mehr 20.000. Dieser Trend sei aber erst mal gestoppt, sagt Christiane Schomaker. Die Pressesprecherin des Bürgermeisters Klaus Petry, SPD, ist eine richtige Wittenbergerin: forsch und zuversichtlich. Sie verteidigt „ihre“ Stadt und zählt gern auf, was Wittenberge zu bieten hat: die Elbe, eine naturbelassene Umgebung und ein Festspielhaus, das den Jazzsaxofonisten Günther Fischer ebenso einlädt wie Costa Cordalis. Die Stadt habe eine Chance, sagt Schomaker: „Es gibt auch Zuzüge.“ Unternehmer, die in den vergangenen Jahren kleine und mittelständische Firmen angesiedelt haben.

Nach der Wende waren große Industriezweige wie der Nähmaschinenbau, die Zellwollproduktion und die Ölmühle zusammengebrochen. Jetzt haben sich verstärkt Handwerker und Techniker selbstständig gemacht. Am Stadtrand ist ein Gewerbezentrum entstanden. Es gibt sogar eine Koordinationsstelle für Wirtschaftsförderung, geleitet von einer Frau aus dem Westen. Als Siw Foge zum ersten Mal in Wittenberge öffentlich auftrat und sich als Innovationsmanagerin zu erkennen gab, erntete sie scheele Blicke. Was soll das sein, eine Innovationsmanagerin? Heute sind alle Unternehmer froh, dass die erfahrene und weitsichtige Frau ein Netzwerk aus Verbänden, Firmen, Institutionen und Politik geschaffen hat. „Von der Hoffnung auf eine große Industrie haben wir uns verabschiedet“, sagt Christiane Schomaker. Aber die kleinen Betriebe haben reelle Chancen, meint Siw Foge.

Keine Aussichten hat die Platte. Derzeit stehen 3.000 Wohnungen leer, darunter ganze Neubaublocks. Der Wohnkomplex Wittenberge Nord ist vollständig abgerissen worden. Die Innenstadt ist großflächig und aufwändig saniert worden, zum Teil mit EU-Geldern. Es sieht schön aus an manchen Ecken in Wittenberge. Es wohnt nur niemand dort. Überall prangen Schilder: Zu vermieten. Zu verkaufen. Die Straßen sind wie leergefegt. „Wer soll denn da auch zu sehen sein?“, fragt lakonisch eine Apothekerin, die nicht genannt werden will. „Ist doch fast niemand mehr da.“

Dieses Phänomen nennen Fachleute shrinking cities, schrumpfende Städte. Überall in der Welt, ob in Belgien, Großbritannien, Russland, der Ukraine, China oder eben in Deutschland schrumpfen die Städte. Die Menschen verlassen Kleinstädte und Dörfer in Richtung Metropolen. Die wiederum können mit dem Bevölkerungszuwachs kaum umgehen und platzen aus allen Nähten. Das stellt die Gesellschaft in den Augen des Berliner Architekten und Architekturwissenschaftlers Wolfgang Kil vor neue Herausforderungen. Er fordert eine angepasste Stadtplanung.

Bereit für den Lebensabend

In den geschrumpften Städten bleiben vor allem die Alten zurück. In Wittenberge gibt es zwölf Senioren- und Pflegeheime. Und es werden weitere gebaut. Zum Teil privat finanziert, zum Teil von der Stadt. In Wittenberge ist alles zu haben für den Lebensabend: Häuser mit altersgerechten Wohnungen und Wohneinheiten, mit Balkon, Tiefgarage und Betreuung rund um die Uhr. Wer ausreichend Geld hat, leistet sich das. Für alle anderen gibt es ein Heimzimmer mit Kontrollfunktion.

Altersgerechtes Wohnen als Baugrundlage ist eine Chance, meint Christiane Schomaker: „Es gibt jede Menge Land, das bebaut werden kann.“ Zum Beispiel direkt an der Elbe, mit Blick aufs Wasser. Wittenberge hat sich darauf eingerichtet, eine alte Stadt zu sein. Hans-Heinrich Schenk, 71 und Ehrenvorsitzender des Kreissportbundes, wirbt, wo er kann, für das aktive Altern. Die meisten Aufführungen im Festspielhaus beginnen bereits um 15 oder 16 Uhr. So sind die Senioren zum Abendessen wieder daheim und kommen zur gewohnten Zeit ins Bett.

„Die Zukunft unserer Stadt liegt in den Händen der Senioren“, sagt Pflegerin Annemarie Hansen. Es gibt nur ein (weiteres) Problem: Die heutigen Senioren mögen noch eine Rente bekommen und ein wenig Gespartes haben. Die folgenden Generationen bekommen tagtäglich zu hören, dass sie keine staatliche Altersversorgung mehr bekommen und sie sich eine private erwirtschaften sollen. Doch wovon? Um Arbeit zu bekommen, gehen die Menschen ja weg.