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Archiv-Artikel

Schräge Musik in Hamburgs Hinterhof

STRASSENFEST Mit unkommerziell-charmantem Flair feiern die Bewohner des Münzviertels am Samstag auf den Straßen. Zwischen Bahngleisen und Großbaustelle ist jeder willkommen – auch Menschen in Not

Inmitten des Krachs ist es im Münzviertel am Hauptbahnhof ungewöhnlich friedlich

VON ANDREA SCHARPEN

Der erste Sinneseindruck im Hamburger Münzviertel direkt hinter dem Hauptbahnhof ist der Lärm. Mit lang gezogen kreischenden Bremsen fahren alle paar Minuten Züge in den Bahnhof ein. Dazu Verkehrslärm ringsum und eine Großbaustelle. Inmitten des Krachs aber ist es ungewöhnlich friedlich hier: Kein reflexhaftes Aufschreien nach mehr Ordnung und Sicherheit ist zu vernehmen. Obwohl sich die sozialen Probleme der Stadt im Münzviertel ballen – Obdachlosigkeit, Drogensucht, Perspektivlosigkeit.

Um die kümmern sich hier viele soziale Einrichtungen. Die Tagesaufenthaltsstätte Herz As öffnet ihre Türen für Wohnungslose, in den vergangenen Jahren war das Winternotprogramm hier untergebracht. Ins Drob Inn kommen Abhängige, um Drogen zu nehmen. Viele der rund 1.000 Anwohner, die ihr Viertel „Hinterhof Hamburgs“ nennen, wollen die Probleme im Quartier selbst angehen – mit Bildung, sozialer Arbeit und Kunst.

„Wir sind untereinander solidarisch“, sagt Günter Westphal, dessen Atelier im Münzviertel liegt. Auch Wohnungslose und Drogenkranke seien keine Gäste, sondern Teil des heterogenen Quartiers, betont der 71-Jährige. Neben Studenten wohnen hier auch Künstler und Architekten. Viele engagieren sich in der Stadtteilinitiative, rund ein Dutzend Nachbarn regelmäßig. Ziel ist eine „Quartiersumgestaltung von unten“.

In den vergangenen Jahren sind dabei Orte entstanden, an denen sich Nachbarn treffen und ins Gespräch kommen. „Das haben wir errungen“, sagt Michel Chevalier, der ein künstlerisches Ladenprojekt im Münzviertel betreibt. „Um die Jahrtausendwende gab es hier nichts“, erinnert sich der 46-Jährige. Heute gibt es kleine Orte zum Verweilen zwischen den vielen erhaltenen Altbauten wie selbst gebaute Bänke oder den Münzgarten.

Das Stückchen Hinterhof an den Gleisen wurde liebevoll in einen grünen Gemeinschaftsgarten umgewandelt. Dahinter stand eine ehemalige Schule jahrelang leer. Bis die Nachbarn wieder aktiv wurden: „Wir wollten ein Bildungsangebot für Leute schaffen, die aus allen anderen sozialen Netzen herausfallen“, erklärt Anwohnerin Rahel Puffert.

Dabei ist das Werkhaus, ein von der Stadt finanziertes Modellprojekt, entstanden. Seit Dezember 2013 bieten ein Sozialarbeiter, verschiedene Künstler und eine Gärtnerin jungen Erwachsenen ohne Wohnung neue Perspektiven. „Wir geben ihnen Raum, um sich zu entfalten“, sagt Puffert. Im Werkhaus können die Teilnehmer im Garten arbeiten, beim Kochen helfen oder im Tonstudio kreativ werden – im besten Fall Pläne für ihr Leben schmieden. „Wir wollen, dass sie sich wieder selbst wertschätzen“, sagt Westphal, der Initiator des Projekts – auch durch Kunst, ganz praktisch.

Die Wohnungslosen bauen und begrünen Pflanzkübel und gestalten so den Ort mit, an dem sie leben, werden sichtbar. „Das Viertel macht etwas für die Teilnehmer, aber sie geben auch etwas zurück“, sagt Puffert. Schließlich mache gerade „diese gewisse Rauheit, die schräge Bewohnerschaft und das soziale Miteinander den Charme des Viertels aus“.

Charmant, rau und ein wenig schräg ist auch das Straßenfest, das die Anwohner am heutigen Samstag zum 13. Mal zwischen Repsoldstraße, Rosenallee und Münzplatz veranstalten. Ursprünglich von Studenten-WGs improvisiert, lebt es noch heute von seinem unkommerziellen Charakter. Es gibt einen Flohmarkt, etliche Stände verschiedener politischer Initiativen und ein außergewöhnliches Live-Musik-Programm mit kleinen Nischenbands.

„Es gibt keine einzige Gruppe, in der mehr als ein Takt nach Mainstream klingt“, sagt Chevalier. Früher hat er selbst mit einer Band auf dem Fest gespielt, heute ist er für das Musikprogramm verantwortlich. Und das sei eben „genauso experimentell und offen wie das Viertel“. Hier spielen Bands wie das Impro-Duo Hunger, die mal minimalistisch, mal verspielt klingenden Twisk und Thernst mit ihrem experimentell-ironischem Noise-Pop. İCaramba! steuert explosiven Post-Bop bei, DJ Dorian Grey legt aus nachbarschaftlicher Solidarität auf.

■ Sa, 9. 8., ab 14 Uhr, Repsoldstraße, Rosenallee und Münzplatz. Infos: www.muenzviertel.de