theorie & technik
: Menschliches Abseits

„Du Opfer!“ ist als Beschimpfung auf Schulhöfen in Mode – weil damit gleich die ganze Existenz des Gegenübers verhöhnt wird

Man könnte Gesellschaften danach unterscheiden, welcher Begriff vom Opfer für sie prägend ist. Oder, anders gesagt, welches Zeitwort sie damit verbinden: ob bringen, anerkennen oder sein. So wird das Erbringen eines Opfers mit einer positiven Konnotation versehen, wie im Nationalismus. Das Selbstopfer für Gott und Vaterland, das zugleich Subjekt und Objekt der Opferung ist, behauptet sich als Vollmitglied der Gesellschaft.

Nach 1945 entstand ein ganz anderer positiver Opferbegriff. Nicht das Bringen, sondern der Opferstatus als solcher waren nunmehr ausschlaggebend: Dieser wurde anerkannt. Gleichzeitig produzierte die Selbstdeklaration als Opfer, das Einfordern der Anerkennung, zunehmend einen Mehrwert: Die Rückgewinnung einer Subjektivität, des Subjekts der Aussage „Ich bin ein Opfer“.

Kein Wunder, dass dies zum Königsweg der Emanzipation, vom Feminismus bis zum Antirassismus, wurde. „Der Opferstatus“, so die israelische Soziologin Eva Illouz, „wurde zu einem gültigen Identitätskonzept.“ Daraus folgte, dass keiner mehr Herrscher oder Täter sein wollte. Die Selbstviktimisierung versprach einen höheren sozialen Prestigegewinn. Bei allen positiven Effekten erfährt diese Opferkultur nunmehr heftigsten Einspruch von zwei Seiten, die widersprüchlicher nicht sein könnten.

Da ist zum einen die vehemente Kritik seitens der linken Theorie, wie sie etwa der französische Philosoph Alain Badiou betreibt. Dieser geißelt die Opferkultur als „liberalistische Ideologie“, deren Grundlage eine Ethik der Menschenrechte sei: „Diese Ethik definiert den Menschen als Opfer“.

Während der streitbare Philosoph noch gegen die Hegemonie dieser Ethik antritt, wird diese längst durch eine wachsende Zahl von Jugendlichen widerlegt. Sie konterkarieren deren Vormachtstellung mit ihren eigenen Mitteln: Sie haben aus dem „Opfer“ ein Schimpfwort gemacht. „Du Opfer!“, tönt es von den Schulhöfen.

Da kommt ein neues Verbum ins Spiel: nicht mehr bringen oder anerkennen, sondern einfach nur Opfer sein. Das erlaubt keinerlei positive Konnotation mehr. Diese Umwertung ist aber nicht einfach nur eine Verkehrung der Vorzeichen. Sie weist darüber hinaus auch einige Besonderheiten gegenüber den anderen Opfervorstellungen auf.

Deren Auffälligste ist, dass diese Beschimpfung an kein besonderes identitäres Merkmal gebunden ist. Beschimpfungen wie etwa „Du Idiot!“, „Du Frau!“ oder „Du Schwarzer!“ desavouieren den ganzen Menschen qua Hervorhebung eines positiven – und als solchem erkennbaren – Zugs wie etwa Intelligenz, Geschlecht, Rasse. Keine dieser Injurien meint den Anderen als Opfer. Der „Nigger“ ist kein Opfer für den, der ihn so nennt. Ein Opfer ist unschuldig. Mit ihm müsste man Mitleid haben.

Geht es bei „Du Opfer!“ also einfach um ein Dschungelrecht des Stärkeren? Das trifft die Sache nicht ganz, denn dann wären „Du Verlierer!“ oder „Du Schwächling!“ gleichwertige Injurien. Sind sie aber nicht. Denn das „Opfer“ ist nicht mal ein Teilnehmer (der Pech hatte oder zu schwach war).

Der als „Opfer“ Beschimpfte war niemals auf gleicher Augenhöhe, mit ihm gibt es keine Gemeinsamkeit. „Du Opfer!“ geht über alle Beschimpfungen weit hinaus. Das Opfertum ohne nähere Spezifizierung bedeutet nichts anderes als eine Zuweisung an die Stelle des Opfers schlechthin. Dies ist in dreifacher Hinsicht erschreckend.

Erstens suggeriert es, zum Opfer werde man quasi ontologisch, durch seine pure Existenz – als gäbe es ein Opfer-Sein. Solch ein Opfer kann sich auf keine Menschenrechte berufen, auf kein umfassendes Mensch-Sein, das ihn inkludieren würde.

Zweitens gehen diese Jugendlichen wie selbstverständlich davon aus, dass es in einer Gesellschaft solch einen Platz gibt: den Platz dessen, der ausgeschlossen werden muss, desjenigen, der stört, weil er verhindert, dass sich die Gesellschaft „schließt“. Nur dann ist der „Opfer“ genannte einer, mit dem man kein Mitleid hat. Nur dann wird der Opferstatus selbst zur Beschimpfung.

Drittens aber scheint es den Jugendlichen als ausgemacht, dass der Platz des Opfers einem Individuum einfach zugewiesen werden kann. Dass es also Instanzen gibt, die darüber „entscheiden“. Der Schimpfende bestimmt, wer ein ontologisches Opfer ist: Du! Ihm erwächst daraus folglich eine Machtposition, die gleichzeitig die Abwehr des eigenen Opferstatus bedeutet. Der Andere dieses „Opfers“ ist nicht notwendig ein Täter, aber in jedem Fall ein Nicht-Opfer, also ein Teil der Gesellschaft – welcher auch immer. Man muss dies als Symptom sehen und sich fragen: Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn Jugendlichen nur noch das nackte Opfersein als Distinktionsmerkmal bleibt? ISOLDE CHARIM