Aufbruch in das Licht

In einer anderen Haut: Antje Rávic Strubels neuer Roman „Kältere Schichten der Luft“

VON OLIVER PFOHLMANN

Im Titel ist zwar von der Luft die Rede. Aber wichtiger in Antje Rávic Strubels neuem Roman ist das Licht. Das „brutale“ Licht über der Seenlandschaft Värmlands, dem schwedischen Eldorado für Camper und Kanuten. Es verleiht der Natur und den Menschen ein flirrendes Aussehen. „Erstrahlte der See eben noch türkis bis zum Grund, lag er im nächsten Moment schon stumpf und geschlossen da wie Asphalt.“ Genauso ergeht es den von der Sonne grell ausgeleuchteten Gesichtern; erst im Schatten werden sie wieder „stabil“.

Anja, die Ich-Erzählerin, ist für derlei Phänomene besonders sensibilisiert. Wie die Autorin hat sie einst am Theater als Beleuchterin gejobbt. Auf der Flucht vor ihren Lebensängsten und Hartz IV hat es die 30-Jährige aus Halberstadt in diese luminöse Gegend verschlagen. Verführt durch die Anzeige: „Raus aus der eigenen Haut! Lust auf was Neues? Dann auf in die Wildnis! Die Natur stellt keine Fragen. Engagierte Leute für Jugendcamp (?) gesucht!“

Auch die anderen Teammitglieder versuchen hier oben, ihre gescheiterten Biografien zu vergessen. Pflegen die tröstliche Vorstellung, endlich eine Aufgabe gefunden zu haben: in der Betreuung immer neuer Horden abenteuerlustiger Jugendlicher, die ein geschäftstüchtiger Berliner Unternehmer ankarren lässt. Für Anja, längst desillusioniert, sind ihre Kollegen wenig mehr als „Verrückte in einem verrückten Muster, das sie am Ende selber waren“.

Strubels letzter, mit viel Beifall bedachter Roman „Tupolew 134“ über eine reale Flugzeugentführung nach West-Berlin 1978 war zumindest vordergründig von der Ost-West-Thematik bestimmt. Wer will, kann diese auch im neuen Buch finden. Etwa in Ralf, der als Ex-DDR-Grenzsoldat ein Verlierer der Wiedervereinigung wurde und nun am Lagerfeuer den Teamgeist beschwört. Doch sind solche Hintergründe eher austauschbare Realitätspartikel wie das vergammelte Dosenbrot aus NVA-Beständen, das an die Kids ausgegeben wird. Tatsächlich geht Strubel, 1974 in Potsdam geboren, ihre eigentlichen Schreibthemen diesmal direkter an. Um nicht zu sagen: plakativer.

Kann man Identität und eingefahrene Lebensmuster überwinden und radikal neu anfangen? Ist Liebe außerhalb von Konvention und Klischee möglich? „So lange ich nicht aus mir selber ausbreche“, erkannte die Autorin einmal in einem Interview, „werde ich auch nicht aus der Gesellschaft oder einer festen Struktur ausbrechen.“ Zumindest eine Zeit lang wird ihre Protagonistin die obige Anzeige beim Wort nehmen und in eine andere Haut schlüpfen. Möglich wird dies durch das Auftauchen einer rätselhaften Fremden, der Anja den Namen Siri geben wird. Siri mit ihrem unbestimmten Alter und für die Wildnis unpraktischen Trägerkleid ist wenig mehr als eine Wunschprojektion. Analytiker würden von der Anima sprechen, aber ebenso gut könnte sie eine Elfe sein, die ja gerade im Värmland heimisch sein sollen. Jedenfalls: Die Fremde drückt gleich ihren „glühenden Körper“ an Anja und sondert dabei so originelle Sätze ab wie: „Ich habe Sie endlich gefunden. Ich wusste es.“ Man muss ihr zugute halten: Sie meint es ernst. Denn Siri steht für etwas, vor dem Anja bislang stets zurückgeschreckt ist, dem radikalen Anspruch der Liebe.

Mehr noch: Siri verkörpert die Verlockungen des délire à deux. Sie verleiht Anja, die sich zunächst dagegen sträubt, sich dann aber mehr und mehr auf Siris Angebot und Begehren einlässt, einen neuen Namen („Schmoll“), ein neues Geschlecht und ein neues Alter: Schmoll ist ein pubertierender Junge. Als Schmoll erfährt Anja ein neues Realitäts- und Körpergefühl; spürt endlich klare Konturen und Kontraste, wo zuvor alles schwankte. Schmoll ist jemand, der Anja vielleicht schon immer gerne gewesen wäre und der eine neue Unschuld verspricht.

Strubels Transgender-Romanze hat durchaus ihre Reize und ist in einer soliden, wenn auch unspektakulären Prosa verfasst. Siris und Schmolls erste und einzige erotische Begegnung, die die beiden am Ende nur im Zwiegespräch imaginieren, während sie in der sogenannten Wirklichkeit mit dem Kanu zurück zum Camp paddeln, ist sogar ein berückender Einfall. Davon abgesehen, zehrt der Roman jedoch über weite Strecken nur vom etwas abgegriffen daherkommenden Gefühl einer wachsenden Bedrohung, die sich hinter der Outdoor-Romantik verbirgt.

Denn im Camp der Verlierer grassieren Lagerkoller und Frust. „Das ist ja hier gehässig geworden wie in einem beschissenen Jungyuppie-Büro!“, heißt es einmal treffend. Die, die auch im Värmland nicht aus ihrer Haut können, fühlen sich von Anja, der Neuen auf Selbsterfahrungstripp, provoziert. „No gays!“, steht plötzlich auf einem Fußball, woraufhin sich erst mal alle zur Toleranz bekennen. Bald darauf versucht Ralf Anja zu vergewaltigen („Komm schon, es wird dir gefallen“). Und als wäre das nicht genug, entpuppt sich Campchefin Svenja als Möchtegernlesbe und versucht Anja, nachdem Geld gestohlen wurde, zu sexuellen Dienstleistungen zu erpressen, um zu erfahren, wie das mit einer Frau so ist. Auf solche Versatzstücke hätte man in dem interessanten Roman gerne verzichtet.

Antje Rávic Strubel: „Kältere Schichten der Luft“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006, 190 Seiten, 17,90 Euro