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Archiv-Artikel

Langer Abschied von gestern

Die Britpop-Band Pulp kommt aus Sheffield. Obwohl Sänger Jarvis Cocker nach ihrer Auflösung nach Frankreich zog, muss man in seine Heimatstadt fahren, um ihn zu verstehen – und sein Solodebüt „Jarvis“, das heute erscheint

Pulp ging es in den Neunzigern mehr ums Rauskommen als ums Großrauskommen

VON JULIAN WEBER

Für den Erfolgsernstfall probten Pulp in einer Sheffielder Garage. „Was für ein Radau das war!“, erinnert sich der Hausmeister von 130 Mansfield Road im Gespräch mit den Hobbydetektiven von der Fanhomepage, die der Band auch nach ihrer Auflösung die Treue halten.

Denn während der eine Oasis-Gallagher immer noch öffentlich darüber nachdenken darf, ob er dem anderen eine Zwangsjacke zu Weihnachten schenken soll, haben Pulp aus Sheffield schon vor einigen Krippenfesten das Zeitliche gesegnet. Immerhin kam 2002 noch die solide Best-Of-Compilation „Hits“ heraus. Sie platzierte sich auf Platz 71 der UK-Charts. „Fair enuff“, wie gemeine Engländer sagen würden. Den Unterschied zu vielen anderen Bands macht der bislang unveröffentlichte Song auf der Zusammenstellung aus.

„Last Day of the Miner’s Strike“ mag kein Meilenstein der Bandgeschichte sein, macht aber deutlich, woher Pulp kommen und wie sie wurden, was sie sind. Ohne mit der angemalten Wimper zu zucken, waren sie den langen Marsch durch die Achtziger gegangen. Bei allem Willen zur großen Popgeste haben Pulp nie dieses Elend des Thatcherismus in der Provinz vergessen, wo sie mehr als 15 Jahre verbracht hatten, abgehängt von allen Trends. Vielleicht ging’s ihnen deshalb in den Neunzigern auch eher ums Rauskommen als ums Großrauskommen. Oder wie es in „Common People“ heißt: „She told me that her dad was loaded / I said in that case I’ll have a rum and coca-cola / She said fine and in thirty seconds time she said / I want to live like common people / I want to do whatever common people do / I want to sleep with common people / I want to sleep with common people like you.“

Wie lässt sich Jarvis Cockers Heimatstadt Sheffield beschreiben?: silbern angesprühte Hecken; kahle Betonmauern, auf denen jemand in weinroter Farbe „Cloud 9“ geschrieben hat. In „Wickerman“ (vom letzten Pulpalbum „We love Life“) besingt Cocker die Industriebrache seiner Heimatstadt. Die abgebrannten Reste einer Fabrik erinnern ihn an den Geruch von Nougat und Karamell. Nougat und Karamell? Nougat und Karamell! Mit dem gleichen Nachdruck betont es der Sänger in den Lyrics. Sheffield ist übrigens auf sieben Hügeln erbaut, ansonsten gibt es nichts, was die nordenglische Industriestadt mit dem ebenfalls auf sieben Hügeln erbauten Rom gemeinsam haben könnte. Hitlers Luftwaffe hat im Zweiten Weltkrieg tiefe Krater in die Straßenzüge gebombt, und diese Krater wurden in den Sechzigern mit Funktionsbauten aus Wellblech gestopft. Die Industrieanlagen sind inzwischen verrottet. Architektonischer Lichtblick Sheffields ist der „National Centre for Popular Music“, aber die drei Rondelle, die von oben aussehen wie Auspufftöpfe, stehen leer. Heute spülen 80.000 Studenten Geld in die Kassen der Stadt. An der Peripherie ist eine Chipfabrik entstanden und eine riesige Mall „Meadow Hall“, im Volksmund „Meadow Hell“ genannt.

Während Britpop in den Neunzigern munter die Vergangenheit des Empire glorifizierte, „diese Sehnsucht nach einer Ära, in der die Gesellschaft unkomplizierter zu sein schien“, wie es der britische Autor Michael Bracewell formulierte, klingen die Songs von Pulp nach Abschied von gestern. „Well by 1985 I was as cold as cold could be / But no one was underground to dig me out and set me free / 87 socialism gave way to socialising“, singt Jarvis Cocker über den letzten Streiktag in der Perspektive des Kitchen-Sink-Realismus, schüttelt sich die Fusseln vom Acrylpullover und geht raven, heilfroh darüber, dass die alte Scheiße endlich vorbei ist. Ende der Neunziger beschreiben Pulp in „Cocaine Socialism“ aber auch die Wahlkampfhilfe prominenter Kollegen für New Labour als Sackgasse.

Musikalisch waren Pulp nie auf Linie: New Wave, Rock ’n’ Roll, Country, Disco, ein bisschen Ennio-Morricone-Atmosphäre – wonach es den Partygästen halt so beliebte. Eine klassische Ladband waren sie auch nicht. Zur besten Zeit bediente Candida Doyle die Keyboards.

„Now the working classes are obsolete / They are surplus to societies needs/So let ’em all kill each other /And get it made overseas“, singt Jarvis Cocker auf „Cunts Are Still Running This World“, wohl wissend, dass sein Status als frühpensionierter Elder Statesman selbst zum Auslaufmodell werden könnte. Der Song tauchte im Sommer relativ überraschend auf seiner My-Space-Seite auf. Länger hatte man zu diesem Zeitpunkt nichts mehr von Cocker gehört, abgesehen von dem Hobbyraum-Elektro, den er unter dem Namen Relaxed Muscle fabriziert hatte. Gesehen hat man ihn schon hin und wieder, denn er präsentierte im englischen Fernsehen eine Serie über Kunsthochschulen.

Cockers Fangemeinde hatte sich nicht nur den kostenlosen Song heruntergeladen, sondern auch Lesungen, sogenannte Jarvcasts, die Cocker in loser Folge ins Netz stellt, erfreuen sich reger Beliebtheit. Bisher erschienen isländische Sagen, eine Kurzgeschichte von J.D. Salinger, ein bisschen Science-Fiction von William Gibson und ein Hans-Christian-Andersen-Märchen.

„Cunts Are Still Running This World“ zitiert einen Tears-for-Fears-Song. Mit seiner perlenden Pianomelodie und dem feierlich pluckernden elektronischen Drumbeat erinnert der Song tatsächlich an 1982, nur dass Jarvis Cocker drüber grient, als sei die alte Welt nicht mehr zu retten gewesen.

Seiner Heimat England kehrte er nach dem Ende von Pulp den Rücken „als leiser Furz“, wie er sagt; siedelte sich in Paris beim Erzfeind an und heiratete sogar eine Französin.

Keine Sorge, richtig toll findet sich dieser Hungerhaken mit der Panzerknackerbrille und den Manchesterhosen niemals. Das ist vielleicht auch sein generelles Problem. Jarvis Cocker funktioniert noch wie ein Popstar mit leisen Zweifeln, während ringsum alle zu wasserdichten Promis wurden oder nach den Gesetzmäßigkeiten des Hypes in den medialen Bulleröfen als erneuerbare Energie verfeuert werden.

Auf der Höhe des Ruhms, kurz bevor Pulp 1998 zur „This Is Hardcore“-Tournee aufbrachen, engagierte er einen Doppelgänger, der vorne an der Bühne den „Jarvis Cocker“ gab, während er hinter den Verstärkerboxen unbemerkt sang. Nach verschiedenen Pressekampagnen hätte er selbst nicht mehr gewusst, wer denn nun welcher Jarvis Cocker sei, klärte der richtige Cocker neulich in der Times, verschwieg aber auch nicht, dass das Double wegen mehr Körperfülle bald aufflog und seinen Lieblingsanzug ruiniert hat. Sein Solodebüt heißt schlicht „Jarvis“, wie vorher „Scott“ (Walker), „Curtis“ (Mayfield) oder „Kylie“ (Minogue) – und hält vom ersten Pianoakkord an, was „Cunts Are Still Running This World“ versprochen hat.

Cocker verbreitet Crooneratmosphäre, reich an musikalischen Anspielungen von Phil Spector bis zu seinem großen Helden Leonard Cohen. „Jarvis“ durchzieht düstere Launen, was sich schon an den Songtiteln ablesen lässt: „Heavy Weather“, „From Auschwitz To Ipswitch“, „I Will Kill Again“, „Fat Children“, „Disney Time“. Wie er das mit der sentimentalen Popmusik dann doch wieder ins optimistische Lot bekommt, bleibt sein Geheimnis.

Ein anderes Geheimnis ist gelüftet: Dass er wieder Songs schreibt, verdankt Cocker seinem Sohn Albert, dem er eine Spielzeuggitarre geschenkt hat. Daraufhin zerstörte der Kleine Papas Gitarre. Auf der Spielzeuggitarre war die G-Seite auf F gestimmt. Deswegen sind alle Songs auf „Jarvis“ in F, dem sogenannten „Albert Tuning“.