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Archiv-Artikel

„Das reinste Chaos“

INTERVIEW ANNEGRET NILL UND CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Thöne, heute vor fünf Jahren kam der Pisaschock über die Deutschen. War das heilsam?

Ulrich Thöne: Aufrüttelnd. Seitdem ist die Krise der Schulen Allgemeingut. Das Problem ist nur, dass unheimlich viel über Reformen geredet wird. Aber es passiert zu wenig, gerade an den wunden Stellen.

Wo tut’s am meisten weh?

Zum Beispiel bei der Lehrerbildung. Da herrscht das reinste Chaos. Jedes Bundesland, jede Hochschule will in eine andere Richtung. Die Lehramtsstudenten, die wir so dringend brauchen, sind völlig verunsichert. Sie wissen nicht, ob ihre Scheine und Prüfungen auch in anderen Bundesländern anerkannt werden. Sie sind Opfer des föderalen Flickenteppichs.

Ich dachte, die Schüler seien die Betroffenen.

Die sind es zweifellos. Aber gucken Sie sich mal das Tohuwabohu an den Fakultäten für Lehrerbildung und an den Pädagogischen Hochschulen an. Die Studierenden wissen oft nicht, wie und ob es nach der Bachelorphase weitergeht.

Ist es nicht übersichtlicher geworden? Die Kultusminister haben das Studium doch in zwei Teile geteilt, in Bachelor und Master. Wer nach dem ersten in den Beruf will, der kann das machen.

Nein, der Bachelor gilt häufig nicht als ausreichende Ausbildung für den Lehrerberuf. Außerdem gibt es überall andere Regeln für den Übergang vom Bachelor zum Master, oft gibt es gar keine. Das Risiko eines Studiums ohne Berufsaussichten wird auf die Studierenden abgewälzt. Und wenn sie durchkommen, ist nicht gewährleistet, dass sie in ganz Deutschland als Lehrer arbeiten können. Das ist nicht zu verantworten.

War das nicht schon immer so?

Die Situation hat sich verschärft statt verbessert. Und wir haben noch ein anderes Problem. Wir verschlafen gerade einen Generationswechsel. Etwa die Hälfte der knapp 800.000 Lehrer geht in den kommenden zehn Jahren in Ruhestand. Wenn wir wollen, dass die neuen Lehrer eine andere Kultur des Lernens in die Schule tragen, dann müssen wir die Lehrerbildung verändern, und zwar sofort.

Wer trägt die Verantwortung für die träge Reform der Lehrerbildung?

Zuallererst die Kultus- und Wissenschaftsminister. Die verlangen von allen Disziplinen an den Hochschulen, dass sie auf Bachelor und Master umrüsten. Aber sie selbst können sich seit fünf Jahren nicht auf – wie sie es nennen – „ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen“ für das Lehramtsstudium einigen. Fünf vergeudete Jahre!

Dabei gab es nach der Pisastudie einen Schwur: Wir müssen die Lehrerausbildung verändern! Das hat uns die heutige Bundesbildungsministerin Annette Schavan gesagt, sogar mancher Ministerpräsident wie Erwin Teufel forderte das.

Alle haben das gesagt. Und alle haben gewusst: Das kriegen wir nur gemeinsam hin. Aber zwischendurch gab es eine Föderalismusreform …

… kommen Sie uns nicht damit.

Ich kann es Ihnen nicht ersparen. Diese Reform hat eine zielgerichtete Politik unheimlich erschwert. Es gibt kein gemeinsames Interesse mehr an einer einheitlichen Ausbildung. Die Föderalismusreform war eine Absage an gute Bildung für alle.

Sie sind der Vorsitzende der größten Bildungsgewerkschaft in Deutschland. Wie sähe denn Ihr neuer famoser Lehrer aus?

Lehrer sollen Spaß am Lernen vermitteln. Und mehr Kreativität in die Klassen bringen. Sie müssen es schaffen, dass die Schüler zu Subjekten des Lernens werden.

Was heißt das denn?

Dass die Schüler nicht Vorgekautes reproduzieren. Sie müssen selbstständig und eigenverantwortlich arbeiten. Lernen ist eben eine Aktivität der Schüler. Lehrer müssen diesen Prozess fördern.

Und wie soll das gehen, wenn viele Lehrer sich oft nicht mal selbst als Subjekte des Lehrens begreifen?

Lehrer brauchen noch mehr Selbstvertrauen bei dem, was sie tun. Und sie benötigen die Unterstützung der Gesellschaft, die sagen muss, was sie von den Lehrern erwartet.

Also, wie können Lehrer ihren Beruf anders lernen?

Dafür gibt es eine Voraussetzung: Wir brauchen eine Schule für alle und ein Lehramt für alle.

Was soll das heißen?

Dass es eine übergreifende pädagogische Philosophie für den Lehrerberuf geben muss. Einen Kern gemeinsamer Pädagogik, der, na klar, mit speziellen Vertiefungen und Erweiterungen ergänzt werden muss.

Gab es das bisher nicht?

Nein. Eine Zersplitterung des Lehrerberufs wie in Deutschland finden sie in ganz Europa nicht. 16 Bundesländer definieren für ungefähr zehn Schulformen und etliche Fächer unterschiedliche Anforderungen. Es gibt strenggenommen nicht den Lehrer in Deutschland. Es gibt eine Spezies mit über 100 Unterarten. Jeweils verschieden hohes Prestige, unterschiedliche Lehrmethoden, andere Bezahlung. Dabei gibt es gar keine Begründung für eine solche Unterschiedlichkeit.

Doch, sie ist historisch gewachsen. Ein Studienrat wollte schon immer etwas ganz anderes als ein Volksschullehrer sein – und der sich wiederum vom Erzieher abgrenzen.

Das war so, und diese Eifersüchteleien gibt es bei vielen zweifellos noch. Aber was sollen wir heute damit? Die Pisastudie hat uns gewaltige Wissenslücken offenbart, die sehr oft mit dem sozialen Status zusammenhängen. Die Bevölkerung altert, uns gehen die Kinder aus. Da können wir es uns nicht leisten, dass über 20 Prozent eines Schülerjahrgangs weder richtig lesen, noch schreiben, noch rechnen kann.

Und was hat das, bitte schön, mit der Lehrerbildung zu tun?

Viel. Die Kultusminister streiten sich, ob ein Mathelehrer so viel wissen muss wie ein Diplommathematiker, der bei einem Softwareunternehmen anfängt.

Was ist Ihre Haltung dazu?

Nein, muss er nicht. Natürlich brauchen wir Lehrer, die mit Schülern auch an abgefahrenen mathematischen Themen arbeiten können. Aber wichtiger ist es, dass – um ein Beispiel zu nennen – alle Schüler den Dreisatz können. Die müssen das mühelos beherrschen und nicht gleich Pickel bekommen, wenn sie das Wort Prozent hören. Es muss einen Mindeststandard in allen Fächern geben, den kein Schüler unterschreiten darf. Bei uns liegt fast ein Viertel der Schüler darunter, in den Hauptschulen sind es teilweise 60 Prozent. Das darf nicht sein.

Warum ist das so in unseren Schulen?

Wir wissen es noch nicht genau. Die frühe Zerschneidung der Schülerschaft in verschiedene Schulformen spielt sicher eine Rolle. Aber es gibt auch pädagogische Defizite. Unsere Lehrer können haben ein großes Fachwissen, aber sie lernen viel zu wenig den Blick auf das Kind. Sie wissen zu wenig darüber, wie Kinder lernen. Junge Pädagogen werden so schon in der Ausbildung um einen wichtigen Teil ihrer Professionalität gebracht.

Was wäre denn Ihre Faustformel für das Verhältnis von Fachwissen und Pädagogik?

Pardon, aber das will ich mir nicht anmaßen. Das sollen die Fachdidaktiker und -wissenschaftler machen. Ich als Bildungsgewerkschafter mag das nicht entscheiden.

Aber Sie sollten als GEW-Chef den Menschen mal sagen, um was es geht – wenn die Kultusminister sich schon nicht darüber einig werden.

Ich fände es wichtig, dass es ein gemeinsames achtsemestriges Lehrerstudium gibt. Für einen Lehrer, der dann seine Interessen vertiefen kann. Es sollte auch keine Trennung in Theorie und Praxis geben …

Das heißt die Studenten …

… sollten früh die Gelegenheit bekommen, zu überprüfen, ob ihnen der Umgang mit Kindern gefällt.

Die Studenten sollten in die Schule …

… und schauen, ob sie auch mit verrotzten Nasen etwas anfangen können.

Die Einteilung in Bachelor und Master?

… hätte ich so nicht mitgemacht. Niemand in Europa schreibt vor, dass man nach sechs Semestern den Bachelor in der Tasche haben muss. Das gefällt vor allem den Finanzministern – um einsparen zu können. Aber es erschwert das Studium massiv, gerade weil in Deutschland Lehrer zwei Fächer beherrschen müssen.

Herr Thöne, wenn Sie derart massive Vorwürfe an die Adresse der Kultusminister haben, dann fragen wir uns: Wieso geben Sie mit diesen Zauderern noch gemeinsame Erklärungen ab, wie jüngst wieder geschehen?

Ich kann doch nicht sagen, macht euren Mist allein. Wir müssen aus der Frontstellung herauskommen …

mit schleimigen Konsenspapieren – die den Bürgern vorgaukeln, in der Lehrerbildung täte sich etwas.

Wir müssen zu einer nationalen Bildungsstrategie kommen. Das geht nur mit den Ländern, dem Bund und gesellschaftlichen Gruppen wie uns. Ein erster Schritt dahin wäre, einen nationalen Rat für die Lehrerbildung einzurichten. Sofort. Denn wir sind gerade dabei, die neue Lehrergeneration nach alten Regeln auszubilden, also falsch auszubilden. Das bedeutet, wir verschwenden unsere Zukunft.

Solche Floskeln hören wir sonst nur von Kultusministern.

Glauben Sie, ein Viertel Risikoschüler, die nicht in der Lage sind zu lesen und zu schreiben, könnten Ihre Rente einmal bezahlen? Es kommen immer weniger Junge nach als Alte ausscheiden. Das heißt auch, dass die kommende Generation besser qualifiziert sein muss, um das heutige Niveau auch nur zu halten. Dafür brauchen wir Toplehrer.