Wie ein Derwisch durch die Dörfer

ERZÄHLEN Ein guter Erzähler kennt den Eisberg auch unter Wasser. Der Schauspieler und Streetworker Ihan Emirli ist ein guter Erzähler, auch dank Weiterbildung an der UdK. Mehrsprachigkeit spielt dabei eine große Rolle

VON LEA STREISAND

Seine Eltern hatten ihm gesagt: Wenn du Schauspieler wirst, wirst du niemals satt werden. „Und sie hatten recht“, sagt Ilhan Emirli und lacht, „ich bin noch immer hungrig. Hungrig nach Neuem. Nach Geschichten. Nach Märchen. Ich will immer nur lesen und hören und sehen und erzählen.“ Ilhan Emirli erzählt. Mit Händen und Augen und Stimme. Mit ausladenden Gesten und lautem Lachen. Er zieht die Silben in die Länge beim Sprechen. „Erzääähln“, sagt er, und „Märschenn“.

Der 57-Jährige ist ein Alumni des Weiterbildungsstudiengangs „Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education“, der jetzt in die dritte Runde geht. Ilhan Emirli wurde in Istanbul geboren und kam 1978 nach Berlin. „Ich wollte als Textildrucker arbeiten, aber es war genau der Zeitpunkt, als die Textilindustrie von Deutschland in die Türkei verlagert wurde. Genau in die entgegengesetzte Richtung.“ Wieder lacht Ilhan.

Wir sitzen in einer Einrichtung der mobilen Jugendarbeit Mariendorf, für die Ilhan seit 15 Jahren arbeitet. Schauspielunterricht hatte Ilhan bereits in Istanbul an der Volkshochschule genommen. In Berlin bekam er dann schnell Kontakt zur „Theatermanufaktur“. „Dort hab ich alles gelernt“, sagt er. Dann kamen die Angebote. „Damals gab es kaum türkische Schauspieler in Deutschland und alle begannen sich für das Thema Einwanderung zu interessieren, sowohl im Theater als auch beim Film und im Fernsehen.“ Parallel dazu machte Ilhan eine Erzieherausbildung. Heute arbeitet er als Streetworker in Mariendorf und initiiert internationale Kunstprojekte mit Jugendlichen.

„Demnächst wird es ein Treffen in Bern in der Schweiz geben“, sagt er. „30 Jugendliche aus Berlin, aus Bern und aus der Türkei nehmen dort vier Tage an Workshops teil, dann gehen sie gemeinsam auf die Bühne und erzählen.“

Das multilinguale Erzählen ist ein wichtiger Teil des „Künstlerischen Erzählens“, sagt Ragnhild A. Mørch, die diesen Studiengang an der UdK leitet, am anderen Ende der Stadt. Die gebürtige Norwegerin hat bereits 1994 in Oslo Erzählen studiert, als Teil ihrer Schauspiel- und Theaterpädagogik-Ausbildung. Die hochgeschossene schlanke Frau mit den wahnsinnig blauen Augen sitzt in ihrer sonnendurchfluteten Wohnung in Pankow und redet, ebenfalls mit vollem Körpereinsatz. Sie begeistern einen, diese Erzähler, weil sie selber so begeistert sind von dem, was sie da tun. In 16 Wochenendworkshops innerhalb von anderthalb Jahren lernen die Teilnehmer nicht nur die Kunst des Erzählens mittels Stimme, Körper und durch den Kontakt zum Publikum. Sie bauen sich auch ein eigenes Repertoire auf aus teilweise uralten Märchen und Mythen.

Ilhan Emirli gehörte 2013 zu Raghilds ersten Studenten in dem neu gegründeten Studiengang. 700 verschiedene Geschichten hat er im Laufe seines Studiums kennengelernt. „Ich bin so glücklich, dass ich das gemacht habe“, sagt er immer wieder.

Als Abschlussprojekt hat Ilhan mit anderen Teilnehmern das „Fenster zur Welt“ entwickelt, ein fünfsprachiges Erzählprojekt in Șirince in der Türkei. „Das ist Ephesos“, sagt Ilhan, „das spielt in der türkischen-anatolischen, der griechisch-römischen und der persischen und der afrikanisch-ägyptischen Kulturgeschichte eine große Rolle. Ich wollte Geschichten dort erzählen, wo sie passiert sind mit den Sprachen, die dort schon mal gesprochen worden sind: Griechisch, Türkisch, Italienisch, Persisch. So wie die Derwische in früherer Zeit über die Dörfer gefahren sind und auf dem Marktplatz Geschichten erzählt haben.“

Stadt der hundert Sprachen

Die Idee dazu hat Berlin selbst geliefert. „In Berlin werden über hundert Sprachen gesprochen“, sagt Ilhan, „wie schön!“ Er ist selbst dreisprachig aufgewachsen, seine Eltern waren bulgarische Einwanderer in der Türkei, die Großeltern kurdisch. „Bei Familienfesten wurde an jedem Ende des Tisches eine andere Sprache gesprochen“, sagt er.

„Eine Geschichte vermittelt sich nicht nur über Worte“, sagt Ragnhild A. Mørch, „sondern auch über Klang und Melodie, über Gesten. Wenn du eine Geschichte nicht verstehst, musst du sie fühlen.“ „Entdeckendes Erzählen“ nennt sie die Technik, die sie ihren Studenten beibringt. „Du musst selbst in die Geschichte eintauchen“, sagt sie, „ich erkläre das immer als Eisberg. Der Teil einer Geschichte, den du erzählst, ist immer nur die Spitze, die aus dem Wasser ragt. Aber ein guter Erzähler kennt den ganzen Berg bis in die Tiefe.“

Ilhan Emirli hat in seiner Arbeit als Sozialarbeiter enorm von dem Studiengang profitiert, sagt er. Viele seiner Jugendlichen kommen durch ihn zum ersten Mal mit den Erzählungen der Kultur in Berührung, aus der sie kommen. Neulich hat er ihnen vom Gilgamesch-Epos erzählt. „Hey, und das ist meine Kultur, die älteste Geschichte der Welt?!“, imitiert Ilhan die Jugendlichen, „Voll geil!“ – „Ich bin der UdK so dankbar“, sagt er, „sie haben mir wirklich ein Fenster zu einer neuen Welt aufgestoßen.“

■ Der nächste Kurs „Künstlerisches Erzählen“ beginnt am 7. November, Anmeldeschluss 5. September. Mehr Infos auf der website der UdK